Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat heute sein Urteil in
dem Normenkontrollverfahren der Landesregierung von Sachsen-Anhalt gegen
Bestimmungen des Gesetzes zur Regelung der Gentechnik (GenTG) über
- die Begriffsbestimmungen „gentechnisch veränderter Organismus“ und
„Inverkehrbringen“ (§ 3 Nummern 3 und 6 GenTG),
- das Standortregister (§ 16a GenTG),
- den Umgang mit in Verkehr gebrachten Produkten (§ 16b GenTG) und
- Ansprüche bei Nutzungsbeeinträchtigungen (§ 36a GenTG)
verkündet und festgestellt, dass § 3 Nummern 3 und 6, § 16a Absätze 1
bis 5, § 16b Absätze 1 bis 4 und § 36a des Gesetzes zur Regelung der
Gentechnik in der zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes zur Änderung des
Gentechnikgesetzes, zur Änderung des EG-Gentechnik-Durchführungsgesetzes
und zur Änderung der Neuartige Lebensmittel- und
Lebensmittelzutatenverordnung vom 1. April 2008 (Bundesgesetzblatt I
Seite 499) geänderten Fassung mit dem Grundgesetz vereinbar sind.
Über den Normenkontrollantrag informiert die Pressemitteilung Nr.
29/2010 vom 5. Mai 2010. Sie kann auf der Homepage des
Bundesverfassungsgerichts eingesehen werden.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
Die angegriffenen Normen sind formell und materiell verfassungsgemäß.
1. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes folgt aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 26
2. Alternative GG, der eine umfassende Zuständigkeit des
Bundesgesetzgebers zur Regelung des Rechts der Gentechnik begründet,
welche neben der Humangentechnik auch die Gentechnik in Bezug auf Tiere
und Pflanzen umfasst.
2. Soweit die angegriffenen Vorschriften in das Grundrecht auf
informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1
Abs. 1 GG), die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG), die
Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und das Eigentum (Art. 14 Abs. 1 GG)
eingreifen, ist dies gerechtfertigt.
a) Der Gesetzgeber verfolgt mit den angegriffenen Regelungen legitime
Ziele des Gemeinwohls, bei deren Verwirklichung ihm gerade vor dem
Hintergrund der breiten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen
Debatte um den Einsatz von Gentechnik und eine angemessene staatliche
Regulierung ein großzügiger Entscheidungsspielraum zugestanden werden
muss.
Mit der Möglichkeit, gezielt Veränderungen des Erbgutes vorzunehmen,
greift die Gentechnik in die elementaren Strukturen des Lebens ein. Die
Folgen solcher Eingriffe lassen sich, wenn überhaupt, nur schwer wieder
rückgängig machen. Die Ausbreitung einmal in die Umwelt ausgebrachten
gentechnisch veränderten Materials ist nur schwer oder auch gar nicht
begrenzbar. Angesichts eines noch nicht endgültig geklärten
Erkenntnisstandes der Wissenschaft bei der Beurteilung der langfristigen
Folgen eines Einsatzes von Gentechnik trifft den Gesetzgeber eine
besondere Sorgfaltspflicht. Er muss bei der Rechtssetzung nicht nur die
von der Nutzung der Gentechnik einerseits und deren Regulierung
andererseits betroffenen, grundrechtlich geschützten Interessen in
Ausgleich bringen, sondern hat gleichermaßen den in Art. 20a GG
enthaltenen Auftrag zu beachten, auch in Verantwortung für die künftigen
Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen.
Mit dem bezweckten Schutz insbesondere des Menschen, der Umwelt und
fremden Eigentums vor schädlichen Auswirkungen des Einsatzes von
gentechnisch veränderten Organismen und der Vorsorge gegen das Entstehen
solcher Gefahren (vgl. § 1 Nr. 1 GenTG), der Sicherung der Koexistenz
verschiedener landwirtschaftlicher Erzeugungsformen (vgl. § 1 Nr. 2
GenTG) und dem Interessenausgleich zwischen Grundstücksnachbarn werden
insbesondere menschliches Leben, Gesundheit und Umwelt sowie Eigentum
und Berufsfreiheit als andernfalls gefährdete Güter von Verfassungsrang
geschützt. Weitere wichtige, auch europarechtlich anerkannte
Gemeinwohlbelange wie der Schutz der Verbraucher und die Information der
Öffentlichkeit werden gestärkt. Insoweit leistet die mit der Einrichtung
des Standortregisters angestrebte Schaffung von Transparenz im
Zusammenhang mit dem gezielten Ausbringen von gentechnisch veränderten
Organismen in die Umwelt einen wichtigen Beitrag zum öffentlichen
Meinungsbildungsprozess und stellt einen eigenständigen und legitimen
Zweck der Gesetzgebung dar. Um eine solche Transparenz herzustellen, ist
es zulässig, bestimmte Daten der Öffentlichkeit allgemein und insoweit
ohne weitere Bindung an bestimmte Zwecke zugänglich zu machen. Das Recht
auf informationelle Selbstbestimmung schließt die Schaffung allgemein
öffentlicher Daten - auch solcher mit Personenbezug - nicht generell
aus.
b) Die angegriffenen Regelungen sind geeignet und erforderlich, diese
Zwecke zu erreichen. Sie wahren auch das Gebot der Verhältnismäßigkeit
im engeren Sinn.
aa) Mit der Neufassung der Begriffsbestimmungen „gentechnisch
veränderter Organismus“ und „Inverkehrbringen“ (§ 3 Nummern 3 und 6
GenTG) hat der Gesetzgeber sichergestellt, dass auch genehmigte
Freisetzungsversuche und ihre unbeabsichtigten Folgen den Kontroll- und
Eingriffsbefugnissen des Staates und der Folgenverantwortung der
Forschung nach Maßgabe des Gentechnikgesetzes unterfallen. Der Umstand,
dass es sich um nicht beabsichtigte oder technisch nicht zu vermeidende
Vorgänge handeln kann, mindert nicht das mit dem Ausbringen von
gentechnisch veränderten Organismen in die Umwelt und der Vermarktung
gentechnisch veränderter Produkte bestehende Risiko unerwünschter oder
schädlicher, gegebenenfalls unumkehrbarer Auswirkungen, das im Sinn
einer größtmöglichen Vorsorge beherrscht werden soll. Der Gesetzgeber
liefe zudem Gefahr, seiner Verantwortung zum Schutz der natürlichen
Lebensgrundlage nicht gerecht zu werden.
bb) Im Standortregister werden für das gesamte Bundesgebiet Angaben über
Freisetzungen und Anbau von gentechnisch veränderten Organismen erfasst,
um die Überwachung von etwaigen Auswirkungen dieser Organismen
insbesondere auf den Menschen, die Umwelt und die gentechnikfreie
Landwirtschaft zu ermöglichen und die Öffentlichkeit zu informieren. Mit
der Aufteilung des Standortregisters (§ 16a GenTG) in einen allgemein
zugänglichen und einen nicht allgemein zugänglichen Teil hat der
Gesetzgeber einen tragfähigen und aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht
zu beanstandenden Kompromiss zwischen dem Informationsinteresse des
Staates und der Öffentlichkeit einerseits und dem
Geheimhaltungsinteresse der Bezugspersonen andererseits gefunden. Der
gesetzlichen Regelung kann insbesondere nicht entgegengehalten werden,
dass durch das Standortregister die Wahrscheinlichkeit mutwilliger
Zerstörungen von gentechnisch veränderten Kulturen erhöht werde. Bereits
vor dessen Einführung kam es wiederholt zu Behinderungen von
Freisetzungen und Anbau von gentechnisch veränderten Organismen, denen
mit den Mitteln des Polizei- und Strafrechts zu begegnen ist.
cc) Die angegriffenen Regelungen über den Umgang mit in Verkehr
gebrachten Produkten in § 16b GenTG lassen den Behörden und
Fachgerichten genügend Spielraum, um eine verhältnismäßige Anwendung der
Vorsorgepflicht, der guten fachlichen Praxis und der Anforderungen an
die Eignung von Person und Ausstattung im Einzelfall sicherzustellen.
Dies betrifft insbesondere die Frage, was im Einzelfall zur
Vorsorgepflicht und guten fachlichen Praxis gehört. Die insoweit
allgemein gehaltenen Vorgaben lassen es zu, die tatsächlichen
Rahmenbedingungen des Umgangs mit gentechnisch veränderten Organismen
angemessen zu berücksichtigen und den Inhalt der Pflichten auf das Maß
zu beschränken, welches jeweils zur Vermeidung wesentlicher
Beeinträchtigungen der Schutzgüter des § 1 Nr. 1 und 2 GenTG
erforderlich ist.
dd) § 36a GenTG begründet keine neuartige Sonderhaftung für den Einsatz
von gentechnisch veränderten Organismen, sondern konkretisiert und
ergänzt die bestehende verschuldensunabhängige Störerhaftung im privaten
Nachbarrecht (§§ 1004, 906 BGB), in deren Systematik sich die Vorschrift
einfügt. Diese Ergänzung und Konkretisierung des privaten Nachbarrechts
stellt einen angemessenen und ausgewogenen Ausgleich der
widerstreitenden Interessen dar, indem sie zu einem verträglichen
Nebeneinander konventioneller, ökologischer und mit dem Einsatz von
Gentechnik arbeitender Produktionsmethoden und einer echten Wahlfreiheit
der Produzenten und Verbraucher beiträgt.
ee) Insgesamt ist die vom Gesetzgeber jeweils vorgenommene Gewichtung
zugunsten der verfolgten Gemeinwohlziele gerade vor dem Hintergrund der
noch nicht abschließend geklärten Auswirkungen der Gentechnik nicht zu
beanstanden und die Grenze der Zumutbarkeit ist für die Normadressaten -
auch soweit sie zu Forschungszwecken handeln - nicht überschritten.
3. Auch der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht
verletzt. Soweit es zu einer Ungleichbehandlung von Sachverhalten kommt,
beruht dies auf tatsächlichen und rechtlichen Besonderheiten des
Einsatzes von Gentechnik und ist durch die vom Gesetzgeber verfolgten
Gemeinwohlziele gerechtfertigt.
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