Die Vorschrift des § 116 SGB X bestimmt, dass ein Anspruch des
Geschädigten auf Ersatz eines Schadens von ihm auf den
Sozialleistungsträger übergeht, soweit dieser aufgrund des
Schadensereignisses Sozialleistungen an den Geschädigten zur
Schadensbehebung zu erbringen hat. Von diesem Anspruchsübergang sind
gemäß dem vorliegend maßgeblichen Satz 1 des Absatzes 6 der Norm
Ansprüche wegen nicht vorsätzlicher Schädigung gegen Familienangehörige
ausgenommen, die mit dem Geschädigten in einer häuslichen Gemeinschaft
leben.
Der Beklagte des Ausgangsverfahrens ist Vater eines im Jahr 2000
nichtehelich geborenen Sohnes, für den beide Elternteile die
Personensorge gemeinsam ausübten. Der Junge lebte bei der Kindesmutter.
Der Beklagte kam seiner Unterhaltspflicht für das Kind uneingeschränkt
nach. Zwischen ihm und dem Jungen fand regelmäßig jedes zweite
Wochenende Umgang im Hausanwesen der Großeltern des Kindes statt, in dem
auch der Beklagte lebte. Während eines solchen Besuchswochenendes Anfang
August 2001 fiel das einige Minuten unbeaufsichtigte Kind in eine auf
dem Grundstück stehende, ungesicherte Regentonne und befand sich etwa
zehn Minuten unter Wasser. Hierdurch erlitt der Junge schwerste Schäden,
die voraussichtlich auf Lebensdauer zu einem Betreuungs- und
Beaufsichtigungsbedarf führen werden. Der zuständige Sozialhilfeträger
erbringt seit August 2002 für das Kind Leistungen der Sozialhilfe in
Form der Eingliederungshilfe. Er ist Kläger des Ausgangsverfahrens und
nimmt den Beklagten aus gemäß § 116 Abs. 1 SGB X übergegangenem Recht
wegen Verletzung der Aufsichtspflicht auf Schadensersatz in Anspruch.
Das Landgericht geht davon aus, dass der Beklagte seine Aufsichtspflicht
grob fahrlässig verletzt hat und deshalb der familienrechtliche
Haftungsausschluss nach § 1664 Abs. 1 BGB für ihn nicht greift. Es hält
jedoch § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X wegen Verstoßes gegen den allgemeinen
Gleichheitssatz und den verfassungsrechtlich gewährleisteten Schutz der
Familie für verfassungswidrig und hat dem Bundesverfassungsgericht im
konkreten Normenkontrollverfahren die Frage vorgelegt, ob § 116 Abs. 6
Satz 1 SGB X insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als er eine
Haftungsprivilegierung des nicht in häuslicher Gemeinschaft lebenden,
unterhaltspflichtigen Kindesvaters im Gegensatz zu in häuslicher
Gemeinschaft lebenden Familienangehörigen nicht vorsieht.
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass §
116 Abs. 6 Satz 1 SGB X mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Die durch den
Ausschluss des Anspruchsübergangs erfolgende Privilegierung von
Familienangehörigen, die in häuslicher Gemeinschaft leben, gegenüber
getrennt lebenden Familienangehörigen ist auch im Hinblick auf Eltern
und ihre Kinder sachlich gerechtfertigt. Allerdings ist § 116 Abs. 6
Satz 1 SGB X unter Berücksichtigung des grundrechtlichen Schutzes der
Familie und des Elternrechts dahingehend auszulegen, dass eine
haftungsprivilegierende häusliche Gemeinschaft auch zwischen dem Kind
und demjenigen Elternteil entsteht, der zwar von ihm getrennt lebt,
jedoch seiner Verantwortung für das Kind in dem ihm rechtlich möglichen
Maße nachkommt und regelmäßigen sowie längeren Umgang mit dem Kind
pflegt, so dass dieses zeitweise auch in seinen Haushalt integriert ist.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
§ 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X verstößt nicht gegen den nach Art. 6 Abs. 1 GG
zu gewährleistenden Schutz der Familie. Denn bei der Inanspruchnahme
eines gegenüber einem Familienangehörigen schadensersatzpflichtigen
anderen Familienangehörigen infolge eines Anspruchsübergangs handelt es
sich schon nicht um eine familienbedingte finanzielle Belastung, sondern
um eine, die die Familie zwar trifft, aber aus einer Schadensersatz
begründenden Handlung eines Familienmitglieds herrührt. Zur Kompensation
einer solchen, dem einzelnen Familienangehörigen aus einer von ihm zu
verantwortenden Verletzungshandlung, wie zum Beispiel der Verletzung
seiner elterlichen Pflichten, entstehenden finanziellen Belastung ist
der Staat durch Art. 6 Abs. 1 GG grundsätzlich nicht verpflichtet.
Auch Art. 6 Abs. 5 GG, der die Schlechterstellung nichtehelicher Kinder
gegenüber ehelichen Kindern verbietet, wird durch § 116 Abs. 6 Satz 1
SGB X nicht verletzt. Die Norm differenziert nicht danach, ob es sich
bei dem schädigenden oder geschädigten Familienangehörigen um ein
eheliches oder nichteheliches Kind handelt, vielmehr danach, ob der
schädigende mit dem geschädigten Familienangehörigen in häuslicher
Gemeinschaft lebt. Diese Unterscheidung führt auch nicht zu einer
mittelbaren Ungleichbehandlung nichtehelicher Kinder gegenüber ehelichen
Kindern. Denn heutzutage kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass
in aller Regel nichteheliche Kinder nur mit einem Elternteil leben und
eheliche Kinder in häuslicher Gemeinschaft mit beiden Elternteilen
aufwachsen. Vielmehr können eheliche Kinder, deren Eltern sich getrennt
haben, von dem Haftungsprivileg ebenso ausgenommen sein.
Es verletzt ferner nicht den allgemeinen Gleichheitssatz in Art. 3 Abs.
1 GG, dass § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X den Übergang eines
Schadensersatzanspruchs auf den Sozialleistungsträger dann ausschließt,
wenn ein Schadensverursacher mit seinem Familienangehörigen, dem er
Schaden zugefügt hat, in häuslicher Gemeinschaft lebt, nicht dagegen,
wenn die beiden getrennt leben. Diese Ungleichbehandlung ist durch
hinreichende Gründe gerechtfertigt.
Nach der gesetzgeberischen Zwecksetzung sollte durch das
Haftungsprivileg zum einen eine mittelbare wirtschaftliche
Benachteiligung des Geschädigten vermieden werden. Die Gefahr einer
solchen Beeinträchtigung des geschädigten Familienangehörigen durch
einen Rückgriff des Sozialleistungsträgers auf den Schädiger ist größer,
wenn dieser mit dem Geschädigten in häuslicher Gemeinschaft lebt. Dies
gilt auch, wenn der Geschädigte ein Kind und der Schädiger dessen
unterhaltspflichtiger Elternteil ist. Durch den Regress bei dem getrennt
lebenden, zu Barunterhalt verpflichteten Elternteil verringern sich
lediglich seine finanziellen Mittel zur Bestreitung seines eigenen
Lebensunterhalts. Der Rückgriff hat jedoch in der Regel keine
Auswirkungen auf die Höhe des dem Kind geschuldeten Unterhalts, da die
Rückgriffsforderung des Sozialleistungsträgers unterhaltsrechtlich nicht
berücksichtigungsfähig ist und im Falle einer Verbraucherinsolvenz des
unterhaltspflichtigen Elternteils der Unterhaltsanspruch des
geschädigten Kindes, der vorrangig vor der Regressforderung des
Sozialleistungsträgers zu bedienen ist, ungeschmälert erhalten bliebe.
Würde hingegen der Elternteil, bei dem das geschädigte Kind lebt, als
Schädiger in Regress genommen, minderte sich das Einkommen, das dem
gemeinsamen Eltern-Kind-Haushalt zur Verfügung steht, wodurch auch dem
geschädigten Kind die Mittel für seinen Unterhalt entzogen und damit
seine Lebensqualität beeinträchtigt würde. Denn die Höhe der Ausgaben
für Kinder hängt wesentlich von der Höhe des Haushaltseinkommens der sie
betreuenden Elternteile ab.
Des Weiteren ist auch die mit dem Rückgriff des Sozialleistungsträgers
verbundene Gefahr einer Störung des häuslichen Friedens zwischen dem
schädigenden und geschädigten Familienangehörigen deutlich größer, wenn
beide in häuslicher Gemeinschaft leben. Das Schadensereignis lässt ein
Konfliktpotential zwischen Schädiger und Geschädigtem entstehen, das ihr
Verhältnis zueinander schwer belasten kann. Würde die finanzielle
Belastung durch einen Regress des Sozialleistungsträgers noch
hinzukommen, könnte dies die häuslichen Spannungen erheblich steigern,
denen beide, anders als bei einem Getrenntleben von Schädiger und
Geschädigtem, permanent und zwangsläufig ausgesetzt wären. Dies träfe
ein von einem Elternteil geschädigtes Kind in besonderer Weise und würde
sich negativ auf seine Entwicklung auswirken. Bei einem Getrenntleben
des Kindes von dem Elternteil ist es diesen Spannungen nicht unmittelbar
und dauernd ausgesetzt, sondern wird damit gar nicht oder nur während
zeitlich begrenzter Zusammentreffen mit dem Elternteil konfrontiert.
Die für den Ausschluss des Anspruchsübergangs nach § 116 Abs. 6 Satz 1
SGB X maßgebliche Tatbestandsvoraussetzung, dass der schädigende mit dem
geschädigten Familienangehörigen in häuslicher Gemeinschaft lebt, ist
allerdings bei Kindern und ihren von ihnen getrennt lebenden
Elternteilen im Lichte des Schutzes der auch zwischen ihnen bestehenden
Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG sowie des Elternrechts des getrennt
lebenden Elternteils aus Art. 6 Abs. 2 GG auszulegen. Trägt ein
Elternteil mit dem anderen Elternteil, bei dem sich sein Kind vorrangig
aufhält, gemeinsam die Sorge für das Kind oder ist allein aus
Kindeswohlgründen nicht ihm, sondern dem anderen Elternteil die
Alleinsorge eingeräumt, zahlt er regelmäßig den vereinbarten oder
gerichtlich festgesetzten Kindesunterhalt und praktiziert den
verabredeten oder ihm eingeräumten regelmäßigen Umgang mit dem Kind, der
auch ein Verweilen und Übernachten des Kindes in seinem Haushalt mit
umfasst, kommt dieser Elternteil in vollem, ihm rechtlich möglichen
Umfang seiner elterlichen Verantwortung seinem Kind gegenüber nach. Ein
solches Leben in häuslicher Gemeinschaft unter dem Vorzeichen getrennt
lebender Eltern ist im Hinblick auf den mit § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X
verfolgten Schutzzweck mit einer häuslichen Gemeinschaft gleichzusetzen,
in der ein Elternteil mit seinem Kind tagtäglich zusammenlebt. Denn
diese Art des Zusammenlebens ist nicht minder vor Beeinträchtigungen
infolge des Anspruchsübergangs auf den Sozialleistungsträger zu
bewahren. In einem solchen Eltern-Kind-Verhältnis wird regelmäßig auch
der barunterhaltspflichtige Elternteil aus seiner Haushaltskasse
Leistungen für das Kind erbringen, die über seine Verpflichtung zur
Unterhaltszahlung hinausgehen, ihm aber nicht mehr wie bisher möglich
wären, wenn der Sozialleistungsträger wegen eines übergegangenen
Schadensersatzanspruchs des Kindes auf ihn Rückgriff nehmen würde. Die
Vermeidung von Spannungen und Streitigkeiten aufgrund einer
Geltendmachung übergeleiteter Schadensersatzansprüche ist bei einer
häuslichen Gemeinschaft mit teilweisem Zusammenleben von Kind und
Elternteil ebenso vonnöten wie bei einer häuslichen Gemeinschaft, in der
Elternteil und Kind stetig zusammenleben.
Wenn die vorgenannten Voraussetzungen bei dem Beklagten des
Ausgangsverfahrens und seinem Kind vorgelegen haben, was das Landgericht
zu prüfen hat, könnte er gemäß § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X trotz eines
nicht ständigen Aufenthalts des Kindes bei ihm nicht in Regress genommen
werden.
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