Im Fremdrentenrecht galt seit den 1960er Jahren das
Eingliederungsprinzip, wonach Vertriebene und Flüchtlinge in der
gesetzlichen Rentenversicherung nach ihrem Zuzug in die Bundesrepublik
Deutschland so behandelt wurden, als ob sie ihre bisherige
Erwerbstätigkeit unter der Geltung des deutschen
Rentenversicherungsrechts zurückgelegt hätten. Die politischen
Umwälzungen in den Staaten Ost- und Südosteuropas ab Ende der 1980er
Jahre veranlassten den Gesetzgeber jedoch zu einer Abkehr vom
Eingliederungsprinzip. So wurden unter anderem durch den am 7. Mai 1996
in Kraft getretenen § 22b Abs. 1 Satz 1 des Fremdrentengesetzes (FRG
a.F.) die Fremdrentenansprüche dadurch beschränkt, dass für einen
Berechtigten höchstens 25 Entgeltpunkte der gesetzlichen
Rentenversicherung zugrunde zu legen waren. Diese Begrenzung galt nur
für solche Berechtigten, die ab dem 7. Mai 1996 ihren gewöhnlichen
Aufenthalt in Deutschland genommen hatten. Die Norm wurde in den
folgenden Jahren unterschiedlich ausgelegt. Die
Rentenversicherungsträger und Sozialgerichte gingen davon aus, dass die
Begrenzung auf 25 Entgeltpunkte als Gesamtobergrenze für eine
Einzelperson sowohl deren eigene Rente aufgrund eigener Beschäftigung im
Herkunftsland als auch deren Hinterbliebenenrente aufgrund Beschäftigung
des Verstorbenen im Herkunftsland umfasse. Demgegenüber befand der 4.
Senat des Bundessozialgerichts mit Urteil vom 30. August 2001, dass die
Begrenzung keine Anwendung als Gesamtobergrenze fände, wenn dem
Begünstigten neben der eigenen Altersrente auch eine
Hinterbliebenenrente nach dem Fremdrentengesetz zustehe. Dieser
Rechtsauffassung folgten die Rentenversicherungsträger jedoch nicht;
auch die unteren Instanzgerichte schlossen sich ihr nur teilweise an.
Durch das am 11. März 2004 im Bundestag beschlossene und am 26. Juli
2004 verkündete Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz (RVNG) wurde §
22b Abs. 1 Satz 1 FRG dahingehend neugefasst, dass für Fremdrenten aus
eigener Versicherung und wegen Todes eines Berechtigten insgesamt
höchstens 25 Entgeltpunkte zugrunde gelegt werden. Art. 15 Abs. 3 RVNG
ordnete das Inkrafttreten dieser Änderung mit Wirkung vom 7. Mai 1996
an.
Die Beschwerdeführerin des Verfahrens 1 BvR 2530/05 und die Klägerinnen
der den drei konkreten Normenkontrollen zugrunde liegenden
Ausgangsverfahren siedelten in der zweiten Häfte der 1990er Jahre,
jedoch nach dem 7. Mai 1996 nach Deutschland aus und wurden hier als
Spätaussiedlerinnen anerkannt. Ihre Ehemänner waren entweder schon im
Herkunftsland verstorben oder starben wenige Jahre nach der
Übersiedlung. In allen Fällen wurde die Berechnung der Alters- und
Hinterbliebenenrente von den Rentenversicherungsträgern unter
Berücksichtigung einer Obergrenze von insgesamt 25 Entgeltpunkten
vorgenommen, was dazu führte, dass sich für die Hinterbliebenenrente
kein bzw. nur ein geringer Zahlbetrag ergab, weil die 25 Entgeltpunkte
bereits (teilweise) mit der eigenen Altersrente ausgeschöpft waren. Die
Beschwerdeführerin wendet sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen
eine Entscheidung des Bundessozialgerichts, durch die der Bescheid des
Rentenversicherungsträgers im Ergebnis bestätigt worden ist. In den
übrigen Verfahren haben die gegen die Rentenversicherungsbescheide
erhobenen Klagen zur Vorlage durch einen anderen Senat des
Bundessozialgerichts geführt. Dieser Senat sieht in der rückwirkenden
Neuregelung des § 22b Abs. 1 Satz 1 FRG eine sog. echte Rückwirkung, die
hier unzulässig sei.
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die
Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen und in den verbundenen
Normenkontrollverfahren entschieden, dass die in Art. 15 Abs. 3 RVNG
angeordnete (rückwirkende) Geltung der gemeinsamen Obergrenze von 25
Entgeltpunkten mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Die Entscheidung
betrifft – entsprechend den vorliegenden Fallkonstellationen – die
Beschränkung der Höhe solcher Hinterbliebenenrenten, die allein auf
Zeiten nach dem Fremdrentengesetz beruhen und die bislang noch nicht
ohne die in § 22b Abs. 1 Satz 1 FRG vorgesehene Beschränkung
bestandskräftig gewährt worden sind.
Der einstimmig ergangenen Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende
Erwägungen zu Grunde:
Der Normenkontrollantrag ist unbegründet. Die hier betroffenen Renten,
die ausschließlich auf Beitrags- und Beschäftigungszeiten außerhalb der
gesetzlichen Rentenversicherung der Bundesrepublik Deutschland beruhen,
unterfallen nicht dem Eigentumsschutz aus Art. 14 Abs. 1 GG, da ihnen
keine eigene Leistung in eine bundesdeutsche Rentenversicherung zugrunde
liegt.
Des Weiteren begründet Art. 15 Abs. 3 RVNG keinen Verstoß gegen das
Rückwirkungsverbot. Art. 15 Abs. 3 RVNG führt zwar zumindest in formaler
Hinsicht zu einer echten Rückwirkung, weil er bewirkt, dass die
Neuregelung seit dem 7. Mai 1996 zeitlich anwendbar ist, obwohl sie erst
mit der Verkündung am 26. Juli 2004 rechtlich existent geworden ist. Ob
durch die Neufassung der Fremdrentenbeschränkung die Rechtslage
tatsächlich konstitutiv verändert wurde und damit die Grundsätze des
Rückwirkungsverbotes greifen oder ob dadurch lediglich die schon nach
der alten Gesetzesfassung bestehende Rechtslage deklaratorisch bestätigt
worden ist, so dass das Rückwirkungsverbot gar nicht eingreift, kann
dahin stehen. Denn auch eine echte Rückwirkung wäre mangels eines
schutzwürdigen Vertrauens der Berechtigten zulässig.
Das grundsätzliche Verbot der echten Rückwirkung greift nur ein, wenn
eine gesetzliche Regelung dazu geeignet war, Vertrauen auf ihren
Fortbestand in vergangenen Zeiträumen zu erwecken. Die Klägerinnen in
den Ausgangsverfahren der Normenkontrollen konnten jedoch nicht darauf
vertrauen, dass bei der Berechnung ihrer Alters- und
Hinterbliebenenrenten mehr als 25 Entgeltpunkte berücksichtigt würden.
Bis zur Entscheidung des Bundessozialgerichts am 30. August 2001 bestand
keine Grundlage für dieses Vertrauen, weil damals nach übereinstimmender
Rechtsauffassung weder die Rentenversicherungsträger noch die
Sozialgerichte von einem solchen Regelungsgehalt der Norm ausgingen. Die
dementgegenstehende Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 30. August
2001 war zur Vertrauensbildung ebenfalls ungeeignet. Die
höchstrichterliche Rechtsprechung ist nicht Gesetzesrecht und erzeugt
keine damit vergleichbare Rechtsbindung. Schutzwürdiges Vertrauen in
eine bestimmte Rechtslage aufgrund höchstrichterlicher Rechtsprechung
kann allenfalls bei gefestigter, langjähriger Rechtsprechung entstehen,
die hier nicht existierte. Die auch nach dieser Entscheidung noch
abweichende Haltung der Rentenversicherungsträger und eines beachtlichen
Teils der Sozialgerichte stand vielmehr der Bildung von Vertrauen in den
Fortbestand der Auslegung des § 22b Abs. 1 Satz 1 FRG a.F. durch das
Bundessozialgericht entgegen. Dass ein weiterer Senat des
Bundessozialgerichts am 11. März 2004 dessen Rechtsauffassung
bestätigte, ändert daran nichts, da die Neufassung durch das
RV-Nachhaltigkeitsgesetz am selben Tag im Bundestag beschlossen wurde.
Ab dem Tag des endgültigen Gesetzesbeschlusses des Bundestags kann der
Bürger nicht mehr auf den Fortbestand der bisherigen Regelung vertrauen,
sondern muss mit dem Inkrafttreten der Neuregelung ernsthaft rechnen.
Aus den vorgenannten Gründen ist die Verfassungsbeschwerde gleichfalls
unbegründet, soweit die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres
Anspruchs auf Vertrauensschutz rügt. Die Beschwerdeführerin ist auch
nicht durch § 22b Abs. 1 Satz 1 FRG n.F. in anderen Grundrechten
verletzt. Die Norm bewirkt keine Diskriminierung wegen der Heimat oder
der Herkunft (Art. 3 Abs. 3 GG) der Fremdrentenberechtigten, da die
unterschiedliche rentenrechtliche Behandlung dieser Personen
ausschließlich in unterschiedlichen Versicherungsbiografien begründet
ist. Ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1
GG liegt ebenfalls nicht vor. Gegenüber den Versicherten, die ihr
Versicherungsleben in der Bundesrepublik Deutschland verbracht haben,
ist die Ungleichbehandlung der Fremdrentenberechtigten dadurch
gerechtfertigt, dass sie keine eigenen Beiträge zur gesetzlichen
Rentenversicherung geleistet haben. Im Vergleich zu früheren Bürgern der
DDR, die für die Zeiten vor der Wiedervereinigung ebenfalls keine
Beiträge an Rentenversicherungsträger der Bundesrepublik Deutschland
gezahlt, sondern in der DDR Rentenansprüche/-anwartschaften erworben
haben, folgt die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung daraus, dass die
beiden deutschen Staaten eine Einheit auch auf dem Gebiet der
Sozialversicherung vereinbart haben, wozu ein einheitliches Rentenrecht
gehörte. Auch die Wahl des Stichtags 7. Mai 1996 ist sachlich
vertretbar.
weitere Pressemitteilungen
|