Nach dem Vermögensgesetz (VermG) haben Bürger und Vereinigungen, die in
der NS-Zeit aus rassischen, politischen, religiösen oder
weltanschaulichen Gründen verfolgt wurden und deshalb ihr Vermögen
verloren haben, einen Rückerstattungsanspruch. Ein verfolgungsbedingter
Vermögensverlust wird nach § 1 Abs. 6 VermG vermutet, wenn die
Voraussetzungen des Art. 3 der Rückerstattungsanordnung der Alliierten
Kommandantur Berlin vom 26. Juli 1949 (REAO) vorliegen. Dafür genügt es,
dass die Geschädigten einem Personenkreis angehörten, der in seiner
Gesamtheit von der damaligen deutschen Regierung oder der NSDAP verfolgt
wurde. Zu diesen kollektiv Verfolgten zählt das Bundesverwaltungsgericht
nicht nur Juden im Sinne der nationalsozialistischen Rassengesetze,
sondern auch die danach als "Mischlinge ersten Grades" eingestuften
Personen, die von zwei "volljüdischen" Großeltern abstammten. Nicht dazu
gehören aber wie schon nach der Rechtsprechung der alliierten
Rückerstattungsgerichte solche Personen, die nur einen "volljüdischen"
Großelternteil hatten (sog. "Mischlinge zweiten Grades").
Im Ausgangsverfahren hatten die Verwaltungsgerichte zu klären, ob der
vormalige Grundstückseigentümer, der 1871 geborene und 1952 gestorbene
Friedrich J., dem Kreis der kollektiv Verfolgten angehörte. Dessen
Großeltern mütterlicherseits waren keine Juden. Sein Großvater
väterlicherseits war "Volljude"; die Religionszugehörigkeit seiner
Großmutter väterlicherseits blieb vor 1945 ungeklärt. Friedrich J.
erwarb 1932 das Gut Bollensdorf in Neuenhagen (Brandenburg) und
veräußerte nach dessen Parzellierung bis Ende 1943 insgesamt etwa 800
Grundstücke, darunter auch im Jahre 1937 das hier in Rede stehende
Grundstück.
Auf die Beschwerdeführerin sind nach dem Vermögensgesetz alle
vermögensrechtlichen Ansprüche jüdischer Opfer der NS-Verfolgung
übergangen, welche von diesen oder ihren Rechtsnachfolgern nicht
fristgerecht geltend gemacht wurden. Sie beanspruchte auf dieser
Grundlage die Rückübertragung eines 1937 veräußerten und später
geteilten Grundstücks auf sich, da es sich um einen verfolgungsbedingten
Zwangsverkauf gehandelt habe. Das Bundesamt zur Regelung offener
Vermögensfragen stellte fest, dass die Beschwerdeführerin einen Anspruch
auf Herausgabe des Erlöses habe, den die Alteigentümer bei einem nach
der Antragstellung erfolgten wirksamen Grundstücksverkauf erzielt
hatten. Die dagegen gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht ab. Es
ging davon aus, Friedrich J. sei aufgrund nach 1945 bekannt gewordener
Erkenntnisse bezüglich seiner Großmutter väterlicherseits als „Mischling
ersten Grades“ anzusehen. Dieses Urteil und den vorangegangenen Bescheid
des Bundesamtes hob das Bundesverwaltungsgericht auf. Zur Begründung
führte es im Wesentlichen aus, für die Beurteilung, ob der Betroffene zu
dem Personenkreis der NS-Kollektivverfolgten gehöre, könnten nur solche
Tatsachen herangezogen werden, die bereits zur Zeit des
Nationalsozialismus vorgelegen hätten. Danach lasse sich der Nachweis,
dass Friedrich J. "Mischling ersten Grades" gewesen sei, nicht führen.
Nach den Unterlagen aus der NS-Zeit habe Friedrich J. selbst geglaubt,
"Mischling zweiten Grades" zu sein, zumindest aber sei er über seine
wahre Abstammung hinsichtlich seiner Großmutter väterlicherseits im
Unklaren gewesen. Überdies sei er von den Behörden bzw. der NSDAP nicht
als Kollektivverfolgter („Jude“ oder „Mischling ersten Grades“)
behandelt oder irgendwelchen relevanten Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt
worden. Zumindest bis 1943 habe er seine Geschäfte unbehelligt
fortsetzen können.
Die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die
gegen dieses Urteil erhobene Verfassungsbeschwerde nicht zur
Entscheidung angenommen. Eine Verletzung von Verfahrensgrundrechten
(Art. 103 Abs. 1 und Art 19 Abs. 4 GG) kann die Beschwerdeführerin nicht
mit Erfolg geltend machen. Im Übrigen lässt sich nicht feststellen, dass
das Bundesverwaltungsgericht mit seinem Urteil gegen das in Art. 3 Abs.
1 GG verankerte Willkürverbot verstoßen hat. Seine Rechtsauffassung ist
im Ergebnis sowohl gemessen am Wortlaut und Zweck der maßgeblichen
Bestimmungen als auch unter Berücksichtigung der zum alliierten
Rückerstattungsrecht entwickelten Grundsätze nicht schlechthin
unvertretbar.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
Es ist nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, die Anwendung und
Auslegung des Vermögensrechts durch das oberste Fachgericht nach Art
einer Superrevisionsinstanz zu überprüfen. Vielmehr beschränkt sich die
verfassungsrechtliche Überprüfung eines Richterspruchs darauf, ob er
objektiv willkürlich, d. h. unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich
vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf
sachfremden Erwägungen beruht. Ein solcher Verstoß liegt hier nicht vor.
Das Bundesverwaltungsgericht hat seine Rechtsauffassung, für die
Beurteilung, ob ein Betroffener dem Kreis der in der NS-Zeit kollektiv
Verfolgten angehört habe, seien allein Erkenntnisse und Erkenntnismittel
erheblich, die zur Zeit der Herrschaft des Nationalsozialismus zur
Verfügung gestanden hätten, mit dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 Buchstabe
b REAO begründet. Weiter hat es seine Argumentation auf den Zweck der
Wiedergutmachungsregelungen gestützt, nur solche Vermögensschädigungen
auszugleichen, die auch tatsächlich Resultat einer Verfolgung in der
NS-Zeit waren. Diese Argumentation ist nachvollziehbar, da der
Anwendungsbereich der alliierten Rückerstattungsgesetze auf derartige
„ungerechtfertigte Entziehungen“ beschränkt war. Vor diesem Hintergrund
ist es nicht schlechterdings unvertretbar, solche Personen im Ergebnis
nicht zum Kreis der kollektiv Verfolgten zu zählen, die trotz in der
NS-Zeit bestehender Zweifel hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit weder
objektiv als Teil einer solchen kollektiv verfolgten Gruppe behandelt
wurden, noch subjektiv davon ausgingen, einer derartigen
Bevölkerungsgruppe anzugehören. Denn selbst wenn sich später die
tatsächliche Zugehörigkeit des Betreffenden zu einer Gruppe kollektiv
Verfolgter bestätigt, so ist es zumindest nicht unvertretbar anzunehmen,
dieser sei im Zeitpunkt des Vermögensverlusts keiner kollektiv
empfundenen äußeren oder inneren Zwangslage ausgesetzt gewesen, die
angesichts der Wirklichkeit im nationalsozialistischen Unrechtsstaat
pauschal die Vermutung einer unter dem Druck dieser Zwangslage erfolgten
Weggabe eines Vermögenswerts zu rechtfertigen vermag.
Die Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts bewegen sich auch nicht
außerhalb der Grenzen, die durch die zum alliierten Rückerstattungsrecht
entwickelten Grundsätze gezogen sind. Denn auch das für die
amerikanische Besatzungszone zuständigen Revisionsgericht in
Rückerstattungssachen (Court of Restitution Appeals) stellte in einer
1950 ergangenen Entscheidung erkennbar darauf ab, ob der Alteigentümer
gerade zum Zeitpunkt des Vermögensverlusts als Angehöriger der kollektiv
verfolgten Personengruppe anzusehen war. Im Ergebnis der Bewertung des
Bundesverwaltungsgerichts entsprechend kam es seinerzeit dem Court of
Restitution Appeals darauf an, ob der Alteigentümer von den
NS-Machthabern faktisch als Angehöriger einer kollektiv verfolgten
Bevölkerungsgruppe behandelt wurde und sich deshalb objektiv einer
Kollektivverfolgung ausgesetzt sah, oder ob er zumindest subjektiv
tatsächlich davon ausging, einer kollektiv verfolgten Bevölkerungsgruppe
anzugehören. Die tatsächliche Würdigung des Bundesverwaltungsgerichts,
Friedrich J. habe während der NS-Zeit nicht zum Kreis der kollektiv
Verfolgten gezählt, ist der Nachprüfung durch das
Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen und bietet auch keine
Anhaltspunkte für eine verfassungsrechtliche Beanstandung.
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