Die Beschwerdeführerin ist ein Unternehmen der Automobilzulieferung, das
im Februar 2003 mehrere befristete Arbeitsverträge mit zuvor
arbeitslosen Personen schloss, ohne für die Befristung einen sachlichen
Grund zu haben. Nach der damals geltenden Fassung von § 14 Abs. 3 Satz 4
des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (TzBfG) konnte von dem Grundsatz,
dass es zur Begründung befristeter Arbeitsverhältnisse eines sachlichen
Grundes bedarf, abgewichen werden, wenn der Arbeitnehmer bei Beginn des
Arbeitsverhältnisses das 52. Lebensjahr bereits vollendet hatte.
Der Kläger des Ausgangsverfahrens, der von der Beschwerdeführerin auf
dieser Grundlage eingestellt worden war, machte später gegenüber der
Beschwerdeführerin die Unwirksamkeit der Befristung seines
Arbeitsvertrags geltend. Sein Begehren auf Feststellung des
Fortbestehens des Arbeitsverhältnisses und auf Weiterbeschäftigung hatte
vor dem Bundesarbeitsgericht Erfolg.
Das Bundesarbeitsgericht stellte fest, dass das Arbeitsverhältnis
zwischen den Parteien nicht durch Befristung geendet habe. Nationale
Gerichte dürften § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG nicht anwenden, weil sie
insoweit an das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 22. November
2005 in der Rechtssache Mangold gebunden seien (Slg. 2005, S. I-9981).
Danach sei eine nationale Regelung wie § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG mit der
Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG und dem allgemeinen Grundsatz
des Verbots der Altersdiskriminierung unvereinbar. Da das Urteil des
Europäischen Gerichtshofs unmissverständlich sei, bedürfe es keiner
erneuten Vorlage. Obwohl die im Streit stehende Befristungsabrede vor
dem Mangold-Urteil getroffen wurde, lehnte das Bundesarbeitsgericht es
ab, § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG aus Gründen des gemeinschaftsrechtlichen
oder nationalen Vertrauensschutzes anzuwenden.
Die Beschwerdeführerin sieht sich durch das Urteil des
Bundesarbeitsgerichts in ihrer Vertragsfreiheit und in ihrem Recht auf
den gesetzlichen Richter verletzt. Eine Verletzung ihrer
Vertragsfreiheit macht sie aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln
geltend. Sie ergebe sich zunächst daraus, dass das Bundesarbeitsgericht
sich maßgeblich auf das Mangold-Urteil des Europäischen Gerichtshofs
gestützt habe, mit welchem dieser seine Kompetenzen in mehrfacher
Hinsicht überschritten habe. Eine Verletzung ihrer Vertragsfreiheit
folgt nach Ansicht der Beschwerdeführerin des Weiteren daraus, dass das
Bundesarbeitsgericht keinen hinreichenden Vertrauensschutz gewährt habe.
Schließlich hätte das Bundesarbeitsgericht dem Europäischen Gerichtshof
die Frage vorlegen müssen, ob nicht Grundsätze des
gemeinschaftsrechtlichen oder des nationalen Vertrauensschutzes eine
zeitliche Einschränkung des Mangold-Urteils geböten.
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die
Verfassungsbeschwerde zurückge¬wiesen. Die Entscheidung ist hinsichtlich
der Gründe mit 6:2 Stimmen und im Ergebnis mit 7:1 Stimmen ergangen. Der
Richter Landau hat der Entscheidung eine abweichende Meinung angefügt.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
1. Die Beschwerdeführerin ist nicht deswegen in ihrer Vertragsfreiheit
verletzt, weil das angegriffene Urteil des Bundesarbeitsgerichts auf
einer unzulässigen Rechtsfortbildung des Europäischen Gerichtshofs
beruht und das Mangold-Urteil deshalb als sogenannter Ultra-vires-Akt in
Deutschland nicht hätte angewendet werden dürfen.
Wie der Senat in seinem Lissabon-Urteil festgestellt hat, darf die
Ultra-vires-Kontrolle von Handlungen der europäischen Organe und
Einrichtungen durch das Bundesverfassungsgericht nur
europarechtsfreundlich ausgeübt werden. Sie kommt deshalb nur in
Betracht, wenn ein Kompetenzverstoß der europäischen Organe und
Einrichtungen hinreichend qualifiziert ist. Dies setzt voraus, dass das
Handeln der Unionsgewalt offensichtlich kompetenzwidrig ist und der
angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und
Europäischer Union zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung
zulasten der Mitgliedstaaten führt.
Bei der Kontrolle von Handlungen der europäischen Organe und
Einrichtungen hat das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungen des
Europäischen Gerichtshofs grundsätzlich als verbindliche Auslegung des
Unionsrechts zu beachten. Soweit der Europäische Gerichtshof die
aufgeworfenen Fragen noch nicht geklärt hat, ist ihm deshalb vor der
Annahme eines Ultra-vires-Akts die Gelegenheit zur Auslegung der
Verträge sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung
der fraglichen Handlungen zu geben.
Hieran gemessen hat das Bundesarbeitsgericht die Tragweite der
Vertragsfreiheit der Beschwerdeführerin nicht verkannt. Der Europäische
Gerichtshof hat seine Kompetenzen durch das in dem Mangold-Urteil
gefundene Ergebnis jedenfalls nicht hinreichend qualifiziert verletzt.
Dies gilt insbesondere für die Herleitung eines allgemeinen Grundsatzes
des Verbots der Altersdiskriminierung. Es kann dahinstehen, ob sich ein
solcher Grundsatz aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und den
völkerrechtlichen Verträgen der Mitgliedstaaten ableiten ließe. Denn
auch eine unterstellte, rechtsmethodisch nicht mehr vertretbare
Rechtsfortbildung des Europäischen Gerichtshofs würde erst dann eine
hinreichend qualifizierte Verletzung seiner Kompetenzen darstellen, wenn
sie auch praktisch kompetenzbegründend wirkte. Mit der Herleitung eines
allgemeinen Grundsatzes des Verbots der Altersdiskriminierung wurde aber
weder eine neue Kompetenz für die Europäische Union begründet noch eine
bestehende Kompetenz ausgedehnt. Insoweit hatte bereits die
Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG das Verbot der
Altersdiskriminierung für arbeitsvertragliche Rechtsbeziehungen
verbindlich gemacht und damit Auslegungsspielräume für den Europäischen
Gerichtshof eröffnet.
2. Die Beschwerdeführerin ist auch nicht deswegen in ihrer
Vertragsfreiheit verletzt, weil das angegriffene Urteil des
Bundesarbeitsgerichts keinen Vertrauensschutz gewährt hat.
Das Vertrauen in den Fortbestand eines Gesetzes kann nicht nur durch die
rückwirkende Feststellung seiner Nichtigkeit durch das
Bundesverfassungsgericht, sondern auch durch die rückwirkende
Feststellung seiner Nichtanwendbarkeit durch den Europäischen
Gerichtshof berührt werden. Die Möglichkeiten mitgliedstaatlicher
Gerichte zur Gewährung von Vertrauensschutz sind jedoch unionsrechtlich
vorgeprägt und begrenzt. Vertrauensschutz kann von den
mitgliedstaatlichen Gerichten demnach nicht dadurch gewährt werden, dass
sie eine nationale Regelung, deren Unvereinbarkeit mit Unionsrecht
festgestellt wurde, für die Zeit vor Erlass der Vorabentscheidung
anwenden.
In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs finden sich hingegen
keine Anhaltspunkte dafür, dass es den mitgliedstaatlichen Gerichten
verwehrt wäre, sekundären Vertrauensschutz durch Ersatz des
Vertrauensschadens zu gewähren. Zur Sicherung des verfassungsrechtlichen
Vertrauensschutzes ist deshalb zu erwägen, in Konstellationen der
rückwirkenden Nichtanwendbarkeit eines Gesetzes infolge einer
Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs innerstaatlich eine
Entschädigung dafür zu gewähren, dass ein Betroffener auf die
gesetzliche Regelung vertraut und in diesem Vertrauen Dispositionen
getroffen hat.
Hieran gemessen hat das Bundesarbeitsgericht die Tragweite eines
verfassungsrechtlich zu gewährenden Vertrauensschutzes nicht verkannt.
Wegen des gemeinschafts- bzw. unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs
durfte es sich außer Stande sehen, Vertrauensschutz dadurch zu gewähren,
dass es die zugunsten der Beschwerdeführerin ergangenen Entscheidungen
der Vorinstanzen bestätigt. Ein ohne Verstoß gegen den Anwendungsvorrang
möglicher Anspruch auf Entschädigung gegen die Bundesrepublik
Deutschland für Vermögenseinbußen, die die Beschwerdeführerin durch die
Entfristung des Arbeitsverhältnisses erlitten hat, war nicht Gegenstand
des Verfahrens vor dem Bundesarbeitsgericht.
3. Die Beschwerdeführerin wurde schließlich nicht dadurch ihrem
gesetzlichen Richter entzogen, dass das Bundesarbeitsgericht das
Verfahren nicht an den Europäischen Gerichtshof vorgelegt hat. Das
Bundesarbeitsgericht nahm insoweit vertretbar an, nicht zur Vorlage
verpflichtet zu sein.
Das Bundesverfassungsgericht bekräftigt in diesem Zusammenhang seine
Rechtsprechung, wonach der Willkürmaßstab, den es allgemein bei der
Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen anlegt, auch für die
Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV gilt (vgl. BVerfGE 82, 159
<194>). Das Bundesverfassungsgericht ist unionsrechtlich nicht
verpflichtet, die Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht voll
zu kontrollieren und an der dazu ergangenen Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs auszurichten (anders BVerfG, Beschluss der 3.
Kammer des Ersten Senats vom 25. Februar 2010 - 1 BvR 230/09 -, NJW
2010, S. 1268 <1269>).
Sondervotum des Richters Landau:
Richter Landau ist der Auffassung, dass die Senatsmehrheit die
Anforderungen an die Feststellung eines Ultra-vires-Handelns der
Gemeinschafts- und Unionsorgane durch das Bundesverfassungsgericht
überspanne. Sie verlasse den dem Lissabon-Urteil zugrunde liegenden
Konsens, indem sie nicht nur einen „ersichtlichen“, sondern einen
„hinreichend qualifizierten“ Kompetenzverstoß fordere. Dieser müsse
nicht nur offensichtlich sein, sondern zudem zu einer strukturell
bedeutsamen Verschiebung im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und
supranationaler Organisation führen. Damit verkenne die Senatsmehrheit,
dass jede Ausübung von Hoheitsgewalt nach dem Lissabon-Urteil
demokratisch legitimiert sein müsse. Dies sei jedoch nicht der Fall,
wenn die Gemeinschafts- und Unionsorgane ihre Kompetenzen verletzten.
Der Europäische Gerichtshof habe mit dem Mangold-Urteil die ihm
verliehenen Kompetenzen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts
ersichtlich überschritten. Die von der Senatsmehrheit offen gelassene
Frage, ob der Europäische Gerichtshof den Bereich der vertretbaren
Auslegung verlassen habe, sei offensichtlich zu bejahen. Es sei
insbesondere nicht vertretbar, ein spezifisches Diskriminierungsverbot
wegen des Alters aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen oder den
völkerrechtlichen Verträgen der Mitgliedstaaten herzuleiten.
Unter diesen Umständen sei es dem Bundesarbeitsgericht verwehrt gewesen,
sich auf das Mangold-Urteil zu berufen, § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG
unangewendet zu lassen und der Entfristungsklage stattzugeben. Da es dem
Bundesarbeitsgericht nicht frei gestanden habe, unter offener Abweichung
von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu entscheiden,
hätte das Bundesarbeitsgericht alle zur Verfügung stehenden
Möglichkeiten erwägen oder erörtern müssen, um die sich abzeichnende
Spannungslage aufzulösen.
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