Am 3./4. März 2001 fand an einem Bahnübergang im Landkreis
Lüchow-Dannenberg die gegen den Castor-Transport gerichtete Versammlung
„Nacht im Gleisbett“ statt. Diese wurde gegen Abend aufgelöst, als sich
ein Teil der Demonstranten den Gleisen näherte. Dabei wurde der
Beschwerdeführer in polizeilichen Gewahrsam genommen und für eine
Identitätsfeststellung zur Polizeiinspektion in Lüchow gebracht. Eine
richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit der insgesamt circa fünf
Stunden dauernden polizeilichen Maßnahme wurde nicht herbeigeführt.
Sechs Monate später wurden dem Beschwerdeführer die Kosten für die
polizeiliche Ingewahrsamnahme auferlegt. Seine vor den
Verwaltungsgerichten erhobene Klage gegen den Kostenbescheid blieb in
allen Instanzen erfolglos. Die Verwaltungsgerichte begründeten dies
damit, dass sie im Rahmen der Prüfung des Kostenbescheides zwar die
Rechtmäßigkeit der Auflösung der Versammlung, nicht aber inzident die
Rechtmäßigkeit der polizeilichen Ingewahrsamnahme prüfen könnten, da für
letztere die Zuständigkeit des Amtsgerichts gegeben sei. Es falle in den
Risikobereich des Beschwerdeführers, wenn er im Anschluss an die
Ingewahrsamnahme von dieser Rechtsschutzmöglichkeit keinen Gebrauch
gemacht habe.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine
Verletzung seines Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19
Abs. 4 GG.
Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die
Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen und die angegriffenen
Entscheidungen aufgehoben. Diese werden den verfassungsrechtlichen
Anforderungen im Hinblick auf das Gebot einer umfassenden Nachprüfung
des Verwaltungshandelns nicht gerecht und verletzen den Beschwerdeführer
in seinem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Zwar kann sich der Landesgesetzgeber dafür entscheiden, den Rechtsschutz
gegen polizeiliche Ingewahrsamnahmen den Amtsgerichten anzuvertrauen,
während er die nachgelagerte Prüfung der Rechtmäßigkeit des auf der
Ingewahrsamnahme beruhenden Kostenbescheides bei den
Verwaltungsgerichten belässt. Eine solche Rechtswegspaltung hat aber
nicht automatisch zur Folge, dass es einem angerufenen Gericht verwehrt
ist, Vorfragen zu prüfen, die, wären sie Hauptfrage, in den
Zuständigkeitsbereich eines anderen Gerichts fielen. Vielmehr gilt als
Ausfluss des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz der Grundsatz, dass
das Gericht des zulässigen Rechtsweges den Rechtsstreit unter allen in
Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten entscheidet. Dies
bedeutet, dass das Gericht des zulässigen Rechtswegs auch
rechtswegfremde, entscheidungserhebliche Vorfragen prüft und über sie
entscheidet. Da das einschlägige Landesrecht die Inzidentprüfung der
polizeilichen Ingewahrsamnahme durch die Verwaltungsgerichte im Rahmen
der Kontrolle nachgelagerter Hoheitsakte weder ausdrücklich ausschließt
noch eine materielle Präklusion der dagegen gerichteten Einwände
anordnet, entfaltet der Hoheitsakt der polizeilichen Ingewahrsamnahme
für den später erlassenen Kostenbescheid keine Vorwirkung.
Dementsprechend muss sich der betroffene Bürger, wendet er sich gegen
den später erlassenen Kostenbescheid, nicht entgegenhalten lassen, dass
er zuvor von der Rechtsschutzmöglichkeit gegen die polizeiliche
Ingewahrsamnahme keinen Gebrauch gemacht hat.
Im Übrigen ging der Hinweis der Verwaltungsgerichte auf eine vorrangige
Entscheidung des Amtsgerichts auch ins Leere. Der Rechtsweg zu den
Amtsgerichten war nach der damals geltenden Landesnorm nur für den Fall
eröffnet, dass die Freiheitsbeschränkung entweder länger als acht
Stunden andauerte oder für die Feststellung ein „sonstiges berechtigtes
Interesse“ bestand. Dass diese Voraussetzungen hier vorlagen, ist den
angegriffenen Entscheidungen nicht zu entnehmen.
Schließlich kann der Verzicht auf die Inzidentprüfung der polizeilichen
Ingewahrsamnahme nicht durch die Prüfung der Rechtmäßigkeit der
Auflösung der Versammlung nach dem Versammlungsgesetz des Bundes
kompensiert werden. Die polizeiliche Ingewahrsamnahme und die
versammlungsrechtliche Auflösung unterfallen von Verfassungs wegen sich
gegenseitig ausschließenden Regelungsregimen.
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