Die jährliche Erhebung der Einkommensteuer und der progressive Verlauf
des Einkommensteuertarifs können zu einer Progressionsverzerrung führen,
wenn Einkünfte zusammengeballt in einem Jahr zufließen, die
wirtschaftlicher Ertrag mehrerer Veranlagungszeiträume sind. Die
Einkünfte werden dann zu einem erheblichen Teil mit einem höheren
Steuersatz belastet, als dies bei der Verteilung des Einkommens auf
mehrere Veranlagungszeiträume der Fall wäre, ohne dass die finanzielle
Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen entsprechend höher zu bewerten
ist. Dieses Problem möglicher Belastungsverzerrungen berücksichtigt § 34
EStG durch eine Steuerermäßigung für „außerordentliche“ Einkünfte, zu
denen u. a. die Entschädigungen als Ersatz für entgangene oder
entgehende Einnahmen (§ 24 Nr. 1 Buchstabe a EStG) gehören.
Bis zum Ende des Jahres 1998 galt für die außerordentlichen Einkünfte
ein ermäßigter Tarif, der nur die Hälfte des durchschnittlichen
Steuersatzes des Steuerpflichtigen betrug. Besonders günstig war dies
für die Bezieher hoher Einkünfte, bei denen die Einkünfte, selbst wenn
sie nicht zusammengeballt zugeflossen wären, dem Spitzensteuersatz
unterlegen hätten. Nachdem verschiedene Änderungsinitiativen zunächst
erfolglos geblieben waren, trat nach dem Regierungswechsel im Jahr 1998
an die Stelle des halben durchschnittlichen Steuersatzes die sog.
Fünftel-Regelung nach § 34 Abs. 1 EStG in der Fassung des
Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002, das am 9. November 1998 in den
Bundestag eingebracht und am 31. März 1999 verkündet wurde. Danach
werden außerordentliche Einkünfte mit einem Steuersatz besteuert, der
hinsichtlich des progressiven Tarifverlaufs angewendet worden wäre, wenn
sie anteilig jeweils zu einem Fünftel in fünf Veranlagungszeiträumen
zugeflossen wären. Nach § 52 Abs. 47 EStG galt die Neuregelung ab dem
Veranlagungszeitraum 1999, bezog aber - rückwirkend - auch
Entschädigungen ein, die bereits vor der Verkündung der Neuregelung
vereinbart worden waren. Die Kläger der drei Ausgangsverfahren erhielten
als Arbeitnehmer im Veranlagungszeitraum 1999 aufgrund der Aufhebung
ihres Arbeitsverhältnisses Abfindungen, die jeweils noch vor der
Verkündung der Neuregelung im Januar bzw. März 1999 ausgezahlt wurden.
Die zugrundeliegenden Aufhebungsvereinbarungen wurden teils bereits vor
der Einbringung des Gesetzentwurfs geschlossen (im Oktober 1996 bzw.
Juli 1998), teils aber auch erst danach (im November 1998). In allen
Fällen wandte das Finanzamt anstelle des halben durchschnittlichen
Steuersatzes die Fünftel-Regelung an, was eine steuerliche Mehrbelastung
von rund 5.000, 20.000 bzw. 62.000 DM zur Folge hatte. Die erhobenen
Klagen führten jeweils zur Vorlage durch den Bundesfinanzhof. In den zur
gemeinsamen Entscheidung verbundenen Normenkontrollverfahren hat der
Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die
rückwirkende Anwendung der Fünftel-Regelung nach § 34 Abs. 1 i. V. m. §
52 Abs. 47 EStG in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes
1999/2000/2002 wegen Verstoßes gegen die verfassungsrechtlichen
Grundsätze des Vertrauensschutzes teilweise verfassungswidrig ist.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
Eine grundsätzlich unzulässige „echte“ Rückwirkung, bei der die
gesetzlichen Rechtsfolgen schon vor dem Zeitpunkt der Verkündung für
bereits abgeschlossene Tatbestände eintreten sollen („Rückbewirkung von
Rechtsfolgen“), liegt nicht vor. Denn die Fünftel-Regelung kommt erst ab
dem im Zeitpunkt der Änderung noch laufenden Veranlagungszeitraum zur
Anwendung, d. h. für Entschädigungszahlungen, die ab dem 1. Januar 1999
zugeflossen sind. Es liegt aber eine „unechte“ Rückwirkung vor, soweit
die zugrundeliegende Vereinbarung im Zeitpunkt der Verkündung der
Neuregelung am 31. März 1999 bereits getroffen war, weil die Anwendung
der Fünftel-Regelung insoweit an einen zurückliegenden Sachverhalt
anknüpft. Das ist zwar nicht grundsätzlich unzulässig, mit den
grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Grundsätzen des
Vertrauensschutzes aber nur vereinbar, wenn die Rückanknüpfung zur
Förderung des Gesetzeszwecks geeignet und erforderlich ist und bei einer
Gesamtabwägung zwischen dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens und der
Dringlichkeit der die Rechtsänderung rechtfertigenden Gründe die Grenze
der Zumutbarkeit gewahrt bleibt. Davon ausgehend verstößt die Anwendung
der Fünftel-Regelung (anstelle des halben durchschnittlichen
Steuersatzes) gegen die verfassungsrechtlichen Grundsätze des
Vertrauensschutzes, soweit sie auch Entschädigungen erfasst, die bereits
im Jahr 1998, aber noch vor der Einbringung der Neuregelung in den
Bundestag vereinbart oder - falls die Vereinbarung älteren oder jüngeren
Datums ist - zumindest noch vor der Verkündung der Neuregelung
ausgezahlt wurden.
Das im Zeitpunkt des Abschlusses der Entschädigungsvereinbarung
betätigte Vertrauen in die Anwendung des halben durchschnittlichen
Steuersatzes verdient grundsätzlich verfassungsrechtlichen Schutz. Der
nach Steuern zu erwartende Nettobetrag ist zumindest auf Seiten des
Arbeitnehmers regelmäßig Grundlage für die Eingehung der
Abfindungsvereinbarung. Der Übergang auf die Fünftel-Regelung führt, wie
die Ausgangsfälle zeigen, zu einer Verschlechterung von erheblichem
Gewicht. Die vom Gesetzgeber für die Neuregelung angeführten Gründe
rechtfertigen es nicht, dies als zumutbar zu bewerten. Das Interesse an
einer Gegenfinanzierung anderweitiger Steuerentlastung hat kein
hinreichendes Gewicht, da dieser Zweck nicht über den eines allgemeinen
Finanzbedarfs hinausgeht und daher den Vertrauensschutz betroffener
Steuerpflichtiger nicht zu überwinden vermag. Auch das Ziel, zweckwidrig
überschießende Vergünstigungseffekte des halben durchschnittlichen
Steuersatzes bei Beziehern hoher Einkommen abzubauen, kann die Versagung
von Vertrauensschutz nicht rechtfertigen. Damit ist ebenfalls nur ein
allgemeines Änderungsinteresse, aber kein Grund zur rückwirkenden
Erstreckung bezeichnet, da die Begünstigungseffekte des halben
durchschnittlichen Steuersatzes dem Gesetzgeber bekannt waren und von
ihm in der Vergangenheit im Wesentlichen hingenommen wurden.
Soweit die Entschädigungsvereinbarung dagegen erst nach der Einbringung
der Neuregelung in den Bundestag am 9. November 1998 oder schon vor dem
Jahr 1998 getroffen wurde, ist die rückwirkende Anwendung der
Fünftel-Regelung grundsätzlich nicht zu beanstanden, denn in diesen
Fällen ist das Gewicht des enttäuschten Vertrauens geringer
einzuschätzen. Durch die Einbringung des Gesetzentwurfs in den Bundestag
zeichnete sich die Rechtsänderung bereits konkret ab, so dass sich die
Beteiligten an einer erst nach diesem Zeitpunkt getroffenen
Entschädigungsvereinbarung darauf einstellen konnten. Die Beschaffung
von Informationen über laufende Gesetzgebungsverfahren ist dem
Steuerpflichtigen nicht unzumutbar. Gerade im Zusammenhang mit
speziellen Vertragsabschlüssen von einigem wirtschaftlichen Gewicht, zu
denen Abfindungsvereinbarungen zählen, ist es gebräuchlich, zweckmäßig
und regelmäßig auch zumutbar, professionelle Beratung über deren
steuerliche Folgen in Anspruch zu nehmen. Ebenfalls weniger schutzwürdig
sind Entschädigungsvereinbarungen, die bereits im Jahr 1997 oder früher
getroffen wurden, aber eine Auszahlung erst für das Jahr 1999 oder
später vorsahen. Denn soweit mögliche Erwartungen an eine Fortgeltung
des alten Rechts über das Folgejahr der Vereinbarung hinausgehen, d. h.
zwischen Vereinbarung und Auszahlung zwei oder mehr
Veranlagungszeitraumwechsel liegen, musste der Steuerpflichtige von sich
aus die Möglichkeit künftiger Rechtsänderungen eher in Betracht ziehen
und sich darauf durch vertragliche Anpassungsklauseln hinreichend
einstellen. Deshalb reichen in diesen Fällen die legitimen
Änderungsinteressen des Gesetzgebers zur Rechtfertigung einer
Enttäuschung des im Zeitpunkt des Abschlusses der
Entschädigungsvereinbarungen bestehenden Vertrauens in den künftigen
Fortbestand des Rechts aus.
Anderes gilt in diesen Fällen aber, wenn die Entschädigung dem
Steuerpflichtigen noch vor dem Inkrafttreten der Neuregelung am 31. März
1999 zugeflossen ist. In dieser Konstellation handelt es sich um
Einkommen, das noch unter der Geltung des alten Rechts erzielt wurde.
Auch wenn das bei Abschluss der Entschädigungsvereinbarung betätigte
Vertrauen nicht uneingeschränkt schutzwürdig war, dürfen
Steuerpflichtige bei ihren Entscheidungen über Sparen, Konsum oder
Investition in jedem Fall darauf vertrauen, dass der Steuergesetzgeber
nicht ohne sachlichen Grund von hinreichendem Gewicht den Nettoertrag
einer bereits zugeflossenen Entschädigung rückwirkend erheblich mindert.
Daran änderte auch das im Zeitpunkt des Zuflusses bereits schwebende
Gesetzgebungsverfahren nichts. Ein laufendes Gesetzgebungsverfahren
führt zwar dazu, dass den Steuerpflichtigen die Abstimmung
zukunftswirksamer Dispositionen auf das künftige Recht eher zuzumuten
ist, kann aber die Gewährleistungsfunktion, die dem geltenden Recht bis
zur Verkündung der Neuregelung zukommt, nicht von vornherein
suspendieren. Auf diese können sich die Steuerpflichtigen auch dann
berufen, wenn die Entschädigung im Hinblick auf die günstigere alte
Rechtslage bewusst bereits im März 1999 ausgezahlt, das
Arbeitsverhältnis aber erst später aufgelöst wurde. Denn es stellt
grundsätzlich keinen Missbrauch dar, sondern gehört zu den legitimen
Dispositionen im grundrechtlich geschützten Bereich der allgemeinen
(wirtschaftlichen) Handlungsfreiheit, wenn Steuerpflichtige darum bemüht
sind, die Vorteile geltenden Rechts mit Blick auf mögliche Nachteile
einer zukünftigen Gesetzeslage für sich zu nutzen. Die rückwirkende
Anwendung der Neuregelung ist insoweit auch nicht durch das -
grundsätzlich berechtigte - Anliegen gerechtfertigt, einen unerwünschten
„Wettlauf“ zwischen Steuerpflichtigen und Gesetzgeber im Hinblick auf
die Inanspruchnahme der alten Rechtslage zu korrigieren. Eine solche
Situation, wie sie etwa bei der Abschaffung von Subventionstatbeständen
eintreten kann, lag nicht vor. Dagegen spricht schon, dass eine
Entschädigung nach § 24 Nr. 1 Buchstabe a EStG voraussetzt, dass die
Vereinbarung nicht ausschließlich aus eigenem Antrieb, sondern unter
einem erheblichem Druck, insbesondere einer ansonsten drohenden
Kündigung, zustande gekommen ist.
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