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Bundesverfassungsgericht - Pressestelle
Pressemitteilung Nr. 144/2009 vom 29. Dezember 2009
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Recht auf effektiven Rechtsschutz nicht generell, sondern nur durch konkrete Handhabung der Regeln über die anteilige Kürzung von Emissionsberechtigungen durch das Bundesverwaltungsgericht verletzt
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Das Kyoto-Protokoll sieht für die Europäische Union für die Jahre 2008
bis 2012 eine Senkung der Emission klimaschädlicher Treibhausgase um 8 %
gegenüber dem Stand von 1990 vor. Zur Erfüllung dieser Verpflichtung hat
die Europäische Gemeinschaft eine Emissionshandelsrichtlinie erlassen.
Diese wurde in Deutschland durch das Gesetz über den Handel mit
Berechtigungen zur Emission von Treibhausgasen (TEHG) und durch
Zuteilungsgesetze für die Perioden 2005 bis 2007 (ZuG 2007) und 2008 bis
2012 (ZuG 2012) umgesetzt. Die Zuteilungsgesetze legen Ziele für die
Emission von Kohlendioxid in Deutschland sowie Regeln für die Zuteilung
von Emissionsberechtigungen fest.
Der Grundmechanismus des damit geregelten Emissionshandelssystems lässt
sich wie folgt beschreiben: Die Freisetzung von Kohlendioxid durch
bestimmte unter den Anwendungsbereich des TEHG fallende Tätigkeiten
bedarf einer Emissionsgenehmigung. Diese Genehmigung setzt voraus, dass
der Verantwortliche - in der Regel der Anlagenbetreiber - im Stande ist,
die durch seine Tätigkeit verursachten Emissionen zu ermitteln und
hierüber Bericht zu erstatten. Der Verantwortliche ist sodann
verpflichtet, bis zum 30. April eines jeden Jahres eine Anzahl von
Emissionsberechtigungen an das Umweltbundesamt als zuständige Behörde
abzuliefern, die den durch seine Tätigkeit im vorangegangenen
Kalenderjahr verursachten Emissionen entspricht. Vor Beginn der
Zuteilungsperiode haben die Verantwortlichen allerdings nach Maßgabe des
jeweiligen Zuteilungsgesetzes einen Anspruch auf Zuteilung von
Berechtigungen durch das Umweltbundesamt. Um das im ZuG 2007 für die
Zuteilungsperiode 2005 bis 2007 festgelegte Budget von 495 Millionen
Tonnen Kohlendioxid pro Jahr einzuhalten, wurden die beabsichtigten
Zuteilungen für bestimmte Anlagen gemäß § 4 Abs. 4 ZuG 2007 anteilig -
nämlich um rund 4,6 % - gekürzt. Hiervon betroffen waren insbesondere
Bestandsanlagen, deren Zuteilungen auf der Grundlage ihrer historischen
Emissionen bereits um einen gesetzlich festgelegten Erfüllungsfaktor zu
kürzen waren. Von der anteiligen Kürzung nach § 4 Abs. 4 ZuG 2007
ausgenommen waren zum Beispiel Zuteilungen an Neuanlagen, die auf der
Grundlage der besten verfügbaren Technik erfolgten, oder Zuteilungen für
prozessbedingte Emissionen.
Die Beschwerdeführerin - eine Aktiengesellschaft - ist ein Unternehmen
der Energiewirtschaft, das in F. ein Kraftwerk betreibt. Mit Bescheid
des Umweltbundesamts wurden für dieses Werk 60.954.891 Berechtigungen
zugeteilt. Ohne anteilige Kürzung hätte das Unternehmen weitere
2.952.660 Berechtigungen erhalten. Der hierauf eingelegte Widerspruch
blieb ebenso erfolglos wie die anschließend erhobene Klage und die
Revision zum Bundesverwaltungsgericht. Die Beschwerdeführerin hat am 12.
Dezember 2007 Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie wendet sich unmittelbar
gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts sowie mittelbar gegen § 4
Abs. 4 ZuG 2007 und rügt die Verletzung von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG in
Verbindung mit Art. 14 Abs. 1, Art. 12 Abs.1 und Art. 2 Abs. 1 GG.
Die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die
Verfassungsbeschwerde - soweit sie sich gegen die anteilige Kürzung nach
§ 4 Abs. 4 ZuG 2007 als solche richtet - nicht zur Entscheidung
angenommen. Hinsichtlich der konkreten Anwendung von § 4 Abs. 4 ZuG 2007
hat das Bundesverfassungsgericht das Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts aufgehoben und zur erneuten Entscheidung
zurückgewiesen.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Insbesondere ist das
Rechtsschutzbedürfnis der Beschwerdeführerin auch nach Ablauf der
Zuteilungsperiode 2005 bis 2007 nicht entfallen. Es ist durch die
höchstrichterliche Rechtsprechung noch nicht geklärt, ob der Anspruch
der Beschwerdeführerin auf Mehrzuteilung von Berechtigungen für die
Zuteilungsperiode 2005 bis 2007 trotz deren Ablaufs noch erfüllt werden
kann oder ob sich der Anspruch mittlerweile erledigt hat. Selbst dann,
wenn man von der Erledigung des Zuteilungsanspruchs für diese Periode
ausgeht, ist die Beschwer nicht entfallen. Denn bei Bestehen eines
berechtigten Interesses an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der
Zuteilungsentscheidung - wie im Falle der beabsichtigten Geltendmachung
eines Schadensersatzanspruchs - kann die Klage auf Zuteilung weiterer
Berechtigungen als Fortsetzungsfeststellungsklage fortgeführt werden.
Sollte man den Ausgangsrechtsstreit trotzdem für erledigt halten, ist
hier für die Verfassungsbeschwerde vom Vorliegen eines
Rechtsschutzbedürfnisses auszugehen. Das Bundesverfassungsgericht hat im
Falle der Erledigung des mit der Verfassungsbeschwerde verfolgten
Begehrens die entscheidenden Kriterien für das Fortbestehen eines
Rechtsschutzbedürfnisses darin gesehen, dass entweder die Klärung einer
verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung andernfalls
unterbliebe oder eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu
besorgen ist oder die aufgehobene oder gegenstandslos gewordene Maßnahme
den Beschwerdeführer noch weiterhin beeinträchtigt. Die der
Beschwerdeführerin bei der Anwendung des für die Zuteilungsperiode 2008
bis 2012 geltenden ZuG 2012 drohende Wiederholung der von ihr
behaupteten Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG durch die Gerichte gebietet
eine verfassungsgerichtliche Prüfung schon zum vorliegenden Zeitpunkt.
Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen § 4 Abs. 4 ZuG 2007 wendet,
kann eine Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19
Abs. 4 GG nicht festgestellt werden.
In der Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts ergibt sich aus § 4 Abs.
4 ZuG 2007 die Befugnis der zuständigen Behörde, zur Ermittlung des
Faktors der anteiligen Kürzung nach § 4 Abs. 4 ZuG 2007 über die Menge
der nach den Vorschriften des ZuG 2007 zuzuteilenden Berechtigungen eine
Prognose zu treffen, deren verwaltungsgerichtliche Kontrolle beschränkt
ist. Die Gerichte hätten nur zu prüfen, ob die Behörde zum maßgeblichen
Zeitpunkt die Zuteilungsmaßstäbe und Zuteilungsregeln des Gesetzes
generell verkannt und damit einen unzutreffenden Prognosemaßstab
zugrunde gelegt habe. Die Prognoseentscheidung sei zu beanstanden, wenn
die Prüfung der Richtigkeit der nach dem ZuG 2007 erforderlichen Angaben
der Anlagenbetreiber generell nicht dem Maßstab des § 17 ZuG 2007
entsprochen habe, wenn die Zuteilungsregeln der §§ 7 ff. ZuG 2007
generell unzutreffend angewendet worden seien oder wenn die Berechnung
des Kürzungsfaktors generell auf einer fehlerhaften Auslegung der
Behörde beruhe. Demgegenüber führe die unrichtige Anwendung des Gesetzes
bei Zuteilungen im Einzelfall nicht zur Rechtswidrigkeit der ermittelten
Zuteilungsmenge oder des daraus abgeleiteten Kürzungsfaktors. Da die
Rechtmäßigkeit der Prognoseentscheidung von individuellen
Fehlzuteilungen unberührt bleibe, seien im Zuteilungsverfahren
unterlaufene Fehler ungeeignet, die Vertretbarkeit der behördlichen
Prognose über die Zuteilungsmenge in Frage zu stellen. Soweit der von
der Behörde ermittelte Kürzungsfaktor hiernach rechtmäßig sei, sei er
auch für die gerichtliche Nachprüfung angefochtener Zuteilungsbescheide
maßgeblich.
Der Bürger hat nach Art. 19 Abs. 4 GG einen Anspruch auf möglichst
wirksame gerichtliche Kontrolle. Dazu gehört vor allem, dass der Richter
eine hinreichende Prüfungsbefugnis über die tatsächliche und rechtliche
Seite des Rechtsschutzbegehrens hat sowie über eine zureichende
Entscheidungsmacht verfügt, um einer erfolgten oder drohenden
Rechtsverletzung wirksam abzuhelfen. Jedoch kann auch nach Art. 19 Abs.
4 GG die gerichtliche Überprüfung nicht weiter reichen als die
materiellrechtliche Bindung der Exekutive. Die gerichtliche Kontrolle
endet also dort, wo das materielle Recht der Exekutive in
verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise Entscheidungen abverlangt,
ohne dafür hinreichend bestimmte Entscheidungsprogramme vorzugeben. In
welchem Fall der Gesetzgeber der Verwaltung die Befugnis zur
Letztentscheidung einräumt, ist durch Auslegung der betreffenden
gesetzlichen Regelung zu ermitteln. Allerdings kann sich auch dann die
Letztentscheidungsbefugnis der Behörde nur auf die konkrete
Rechtsanwendung - die Subsumtion - und nicht auf die Beurteilung der
rechtlichen Maßstäbe, das heißt deren Auslegung und deren
Rechtmäßigkeit, beziehen. Die Interpretation der generell-abstrakten
Rechtsnorm und der in ihr enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe ist
eine originäre Funktion der rechtsprechenden Gewalt, nicht Aufgabe der
Verwaltung.
Bei Anwendung dieser Vorgaben ist hinsichtlich der grundsätzlichen
Annahme des Bundesverwaltungsgerichts, § 4 Abs. 4 ZuG 2007 räume dem
Umweltbundesamt einen Prognosespielraum ein, eine Verletzung von Art. 19
Abs. 4 GG nicht ersichtlich. Diese Auslegung kann sich insbesondere auf
eine funktional-gewaltenteilende Rechtfertigung einer
Letztentscheidungsbefugnis stützen. Bestimmt der Gesetzgeber, dass für
die Berechnung des Kürzungsfaktors nach § 4 Abs. 4 ZuG 2007 der
Zeitpunkt unmittelbar vor Erteilung der Zuteilungsbescheide maßgeblich
sein soll, kann daraus nur geschlossen werden, dass der zuständigen
Behörde bei der Bestimmung der für die Berechnung des Kürzungsfaktors
relevanten Gesamtmenge der zuzuteilenden Berechtigungen ein
Prognosespielraum eingeräumt werden soll. Denn der Gesetzgeber konnte
bei einer solchen Verfahrensgestaltung nicht davon ausgehen, dass die
vor Beginn des Zuteilungsverfahrens ermittelte Zuteilungsmenge sich aus
einzelnen Zuteilungsbescheiden zusammensetzt, deren jeweilige
Rechtmäßigkeit in einem gerichtlichen Verfahren festgestellt worden ist.
Vielmehr konnte der Gesetzgeber bei der Normierung eines solchen
Berechnungsverfahrens von der Behörde nur verlangen, dass sie mit den
abstrakt-generellen Maßstäben des Gesetzes hinreichend vertraut ist
sowie auf der Grundlage von Zuteilungsanträgen entscheidet, deren
Angaben hinreichend auf ihre Richtigkeit überprüft wurden. Hält der
Gesetzgeber diesen Zeitpunkt für die Berechnung des Kürzungsfaktors für
maßgeblich, gilt dies auch für die gerichtliche Kontrolle.
Dass für die Berechnung des Kürzungsfaktors nur der Zeitpunkt
unmittelbar vor Erteilung der Zuteilungen maßgeblich sein sollte, ist in
der hier angegriffenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts in
verfassungsgerichtlich nicht zu beanstandender Weise begründet worden.
Das Bundesverwaltungsgericht hat - indem es zudem auf die
Funktionsfähigkeit des Zuteilungsverfahrens abstellte - gut vertretbar
begründet, dass nachträgliche Änderungen individueller Zuteilungen für
den Kürzungsfaktor unerheblich sein sollen. Wäre die Rechtmäßigkeit des
Faktors der anteiligen Kürzung nach § 4 Abs. 4 ZuG 2007 davon abhängig,
dass alle in die Berechnung der relevanten Zuteilungsmenge eingestellten
Einzelzuteilungen bestandskräftig feststünden, wäre eine Bestimmung des
Kürzungsfaktors innerhalb der Zuteilungsperiode, für die die
Berechtigungen zuzuteilen wären, angesichts der zu erwartenden Dauer der
Gerichtsverfahren praktisch nicht möglich. Darüber hinaus würde eine in
einer Vielzahl von Verfahren und in mehreren Instanzen erfolgende
Überprüfung der Richtigkeit sämtlicher Zuteilungen zur Feststellung des
richtigen Kürzungsfaktors nach § 4 Abs. 4 ZuG 2007 zu einem juristischen
"perpetuum mobile" führen.
Die von der Beschwerdeführerin genannten Grundrechte aus Art. 14 Abs. 1,
12 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG stehen dem durch § 4 Abs. 4 ZuG 2007
eingeräumten Prognosespielraum ebenfalls nicht entgegen. Allein der
Umstand, dass eine Verwaltungsentscheidung mit einer
Grundrechtsbeeinträchtigung verbunden ist, löst nicht automatisch ein
Verbot jeder Letztentscheidungsermächtigung aus.
Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts verletzt aber Art. 19 Abs. 4
GG, soweit es um die konkrete Anwendung des von § 4 Abs. 4 ZuG 2007
eingeräumten Prognosespielraums geht. Soweit das
Bundesverwaltungsgericht davon ausgegangen ist, die Rechtswidrigkeit
einer die gesetzlichen Zuteilungsregeln näher bestimmenden
Rechtsverordnung - nämlich der für prozessbedingte Emissionen geltende §
6 Abs. 6 Zuteilungsverordnung 2007 - sei für die Rechtmäßigkeit der
Prognoseentscheidung nach § 4 Abs. 4 ZuG 2007 unbeachtlich, obwohl die
anteilige Kürzung für die Beschwerdeführer weniger streng ausgefallen
wäre, verkennt das Gericht die sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden
Vorgaben grundsätzlich.
Die in Parallelentscheidungen vom Bundesverwaltungsgericht (siehe nur
Urteil vom 16. Oktober 2007 - 7 C 28.07 -) gegebene Begründung zur
Unbeachtlichkeit der Nichtigkeit der Rechtsverordnung, die auf die
Offensichtlichkeit von deren Rechtswidrigkeit abstellt, trägt die
Einschränkung der gerichtlichen Kontrolle nicht. Die gesetzliche
Einräumung einer Letztentscheidungsbefugnis entbindet die Fachgerichte
nicht von der Prüfung der abstrakt-generellen Vorgaben. Ist eine
Letztentscheidungsbefugnis eingeräumt, kann sich dies nur auf die
konkrete Rechtsanwendung - die Subsumtion - und nicht auf die
Beurteilung der rechtlichen Maßstäbe, das heißt deren Auslegung und
deren Rechtmäßigkeit, beziehen.
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