Der Beschwerdeführer bewohnt mit seiner Ehefrau und sechs Kindern ein
Reihenhaus in Berlin. Nach dem Beschwerdevorbringen sind alle
Familienmitglieder "musikbegeistert, einige praktizierende Musiker". Die
Tochter des Beschwerdeführers übt jeden Tag am späten Nachmittag für
etwa eine Stunde Klavier. Als sie an einem Sonntag im Februar 2008
wiederum Klavier übte, rief der Nachbar, der sich durch das Klavierspiel
gestört fühlte, nach ca. 1/2 bis 3/4 Stunde die Polizei. Nachdem die
Polizeibeamten gegangen waren, übte die Tochter noch ca. 15 Minuten
weiter Klavier. Das zuständige Bezirksamt setzte wegen eines
vorsätzlichen Verstoßes gegen das Verbot, an Sonn- und Feiertagen Lärm
zu verursachen, durch den jemand in seiner Ruhe erheblich gestört wird
(§ 4 LImSchG Bln), eine Geldbuße in Höhe von 75,-- € gegen den
Beschwerdeführer fest. Auf seinen Einspruch hin reduzierte das
Amtsgericht die Geldbuße auf 50,-- €. Der vor dem Amtsgericht als Zeuge
vernommene Polizeibeamte bekundete, dass er das von ihm wahrgenommene
Klavierspiel wie der Nachbar als störend empfunden habe. Der Antrag des
Beschwerdeführers auf Zulassung der Rechtsbeschwerde wurde vom
Kammergericht verworfen.
Die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat auf
die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers das Urteil aufgehoben
und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht
zurückverwiesen. Das Urteil des Amtsgerichts verletzt den
Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 2
GG, weil es die §§ 4, 15 Abs. 1 Nr. 4 Landes-Immissionsschutzgesetz
Berlin (LImSchG Bln) in nicht verfassungsgemäßer Weise anwendet. Bei der
vom Amtsgericht vorgenommenen Rechtsanwendung im vorliegenden Fall ist
für den Normadressaten nicht hinreichend erkennbar, wann das Musizieren
in der eigenen Wohnung an Sonn- und Feiertagen eine "erhebliche
Ruhestörung" im Sinne von § 4 LImSchG Bln darstellt.
Art. 103 Abs. 2 GG enthält ein besonderes Bestimmtheitsgebot, das den
Gesetzgeber verpflichtet, die Voraussetzungen der Strafbarkeit oder
Bußgeldbewehrung so konkret zu umschreiben, dass der Normadressat
erkennen kann, welches Verhalten der Gesetzgeber sanktioniert. Für die
Rechtsprechung folgt daraus, dass jede Rechtsanwendung verboten ist, die
über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Gemessen
daran verletzt das Urteil des Amtsgerichts den Beschwerdeführer in
seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 2 GG. Das Amtsgericht
geht offenbar - in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des
Kammergerichts und entsprechend Ziffer 4 Abs. 2 der
Ausführungsvorschriften zum LImSchG Bln - davon aus, dass bei
verhaltensbedingten Geräuschimmissionen jeder verständige, nicht
besonders geräuschempfindliche Mensch feststellen könne, ob eine
erhebliche Ruhestörung vorliege und sieht im Ausgangsfall auf der
Grundlage der Aussagen des Nachbarn und des hinzugerufenen
Polizeibeamten eine erhebliche Ruhestörung durch das sonntägliche
Klavierspiel als erwiesen an. Das Amtsgericht unternimmt keinen Versuch,
den normativen Gehalt des auslegungsbedürftigen Begriffs "erhebliche
Ruhestörung" zu erfassen und dieses Tatbestandsmerkmal auch im Hinblick
auf das Musizieren in der eigenen Wohnung begrifflich zu präzisieren.
Die Entscheidung darüber, ob eine "erhebliche Ruhestörung" vorliegt,
wird vielmehr dem als Zeugen vernommenen Polizeibeamten überlassen.
Diese Rechtsanwendung räumt der zuständigen Behörde erhebliche
Spielräume schon bei der Beantwortung der Frage ein, ob die
tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 4, 15 Abs. 1 Nr. 4 LImSchG Bln
vorliegen. Sie erhöht damit die den Vorschriften anhafteten
Ungewissheiten in einer den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG nicht
genügenden Weise. Denn bei Zugrundelegung der Rechtsaufassung des
Amtsgerichts wird die Entscheidung über die Sanktionsbedürftigkeit eines
Verhaltens nicht generell-abstrakt durch den Gesetzgeber, sondern durch
die vollziehende Gewalt für den konkreten Einzelfall getroffen.
Da das Amtsgericht die Vorschriften jedenfalls in einer Weise angewendet
hat, die mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar ist, kann dahinstehen,
ob der aus § 4 und § 15 Abs. 1 Nr. 4 LImSchG Bln zusammengesetzte
Ordnungswidrigkeitentatbestand als solcher den Anforderungen des Art.
103 Abs. 2 GG genügt.
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