Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein zivilgerichtliches Verfahren über
Abfindungsansprüche nach der Kündigung des Sozietätsvertrages einer
Steuerberaterpraxis. Die klagende Beschwerdeführerin hatte die Kündigung
erklärt, weil der Beklagte Mandate auf eigene Rechnung bearbeitet hatte.
Beim Landgericht Hannover ist das Verfahren seit dem Jahr 1995, also
seit 14 Jahren, anhängig. Zwei Teilurteile des Landgerichts hat das
Oberlandesgericht in den Jahren 2004 und 2008 aufgehoben und den
Rechtsstreit jeweils an das Landgericht zurückverwiesen. Umstritten ist
neben dem Wert der Praxis vor allem, ob und inwieweit die
Beschwerdeführerin Mandate nach Kündigung des Sozietätsvertrages weiter
betreut und dadurch Umsätze erwirtschaftet hat, die ihren
Abfindungsanspruch mindern würden. Der Verfahrensausgang ist für die
Beschwerdeführerin von besonderer Bedeutung, weil der geltend gemachte
Anspruch ihrer Schilderung nach den Hauptbestandteil ihres Vermögens
ausmacht und sie durch Schulden, die sie im Zusammenhang mit dem Erwerb
der gekündigten Beteiligung an der Steuerberaterpraxis aufgenommen
hatte, noch belastet ist.
Die außergewöhnlich lange Dauer des komplizierten Verfahrens, in dem
bislang ein Gutachten und fünf Ergänzungsgutachten angefordert wurden,
beruht auf einigen dem Gericht nicht anzulastenden Umständen: Neben der
Komplexität des Rechtsstreits ist insbesondere zu berücksichtigen, dass
erhebliche Zeit durch die Einholung der Gutachten verstrichen ist. Deren
Erstellung wurde dadurch verzögert, dass erforderliche Unterlagen
zeitweise durch die Staatsanwaltschaft beschlagnahmt waren, überdies das
Ergebnis der staatsanwaltlichen Ermittlungen für den Praxiswert von
Bedeutung war und deshalb aus arbeits-ökonomischen Gründen abgewartet
wurde, so dass das erste Gutachten erst im Jahr 2000 vorgelegt werden
konnte. Eine im Jahr 2001 erhobene Widerklage und im Jahr 2002 geltend
gemachte Aufrechnungen haben zu einer weiteren Erschwerung und
Verzögerung des Verfahrens geführt.
Gleichwohl hat die 3. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsbeschwerde angenommen und eine
Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 1
i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG festgestellt. Dem Landgericht ist zwar nicht
vorzuwerfen, dass es das Verfahren durch schlichte Nichtbearbeitung
verzögert hätte. Die Feststellung des Verfassungsverstoßes beruht
vielmehr darauf, dass sich das Landgericht angesichts der zunehmenden
und schließlich außergewöhnlich langen Verfahrensdauer nicht darauf
hätte beschränken dürfen, das Verfahren wie einen gewöhnlichen, wenn
auch komplizierten Rechtsstreit zu behandeln. Vielmehr hätte es
jedenfalls nach wenigen Jahren sämtliche ihm zur Verfügung stehenden
Möglichkeiten der Verfahrensbeschleunigung nutzen müssen. Auch ein
Bemühen um gerichtsinterne Entlastungsmaßnahmen wäre in Betracht zu
ziehen gewesen. Dabei hätte das Landgericht einige Verzögerungen
vermeiden können. So wurden unter anderem bei einem Wechsel der
Kammerbesetzung verfahrensleitende Anordnungen wie die Terminierung
einer mündlichen Verhandlung und die Anforderung eines der
Ergänzungsgutachten erst in der neuen Kammerbesetzung vorgenommen,
obwohl dies bereits in der alten Besetzung möglich gewesen wäre. Neben
vermeidbaren kleineren Verzögerungen fällt besonders ins Gewicht, dass
das Landgericht jedenfalls bis April 2009 nicht in die Beweiserhebung
über die Frage einer Minderung des Anspruchs der Beschwerdeführerin
wegen der möglichen Weiterbetreuung von Sozietätsmandaten eingetreten
ist, obwohl die Parteien eine Vielzahl von Zeugen benannt hatten und die
Relevanz dieses Punktes bereits im Jahr 2004 vom Oberlandesgericht
bindend festgestellt worden war. Das Landgericht hätte die Zeugen
parallel zur Einholung der Ergänzungsgutachten vernehmen können. Der mit
dem dafür erforderlichen Anlegen einer Zweitakte verbundene Aufwand war
angesichts der Verfahrensdauer in Kauf zu nehmen. Auch waren die
Ergänzungsgutachten nicht vorgreiflich für die Zeugenvernehmungen und
deshalb auch nicht zwingend vorab einzuholen. Ebenso wenig ist
nachvollziehbar, weshalb das Landgericht das vierte Ergänzungsgutachten
nicht parallel zum Berufungsverfahren über das zweite Teilurteil im Jahr
2007 in Auftrag gegeben hat. Das Verfahren hätte dadurch in diesem
fortgeschrittenen Stadium erheblich beschleunigt werden können.
Der Beschluss bestätigt, dass bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung
der Frage, ab wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert,
sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind, vor allem:
die Natur des Verfahrens und die Bedeutung der Sache für die Parteien;
die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Beteiligten; die
Schwierigkeit der Sachmaterie; das den Beteiligten zuzurechnende
Verhalten, insbesondere Verfahrensverzögerungen durch sie sowie die
gerichtlich nicht zu beeinflussende Tätigkeit Dritter, vor allem der
Sachverständigen. Ferner haben die Gerichte auch die Gesamtdauer des
Verfahrens zu berücksichtigen und sich mit zunehmender Dauer nachhaltig
um eine Beschleunigung des Verfahrens zu bemühen.
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