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Pressemitteilung Nr. 96/2009 vom 19. August 2009


Mündliche Verhandlung in Sachen "Hartz IV"

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts verhandelt am Dienstag, 20. Oktober 2009, 10:00 Uhr, im Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts, Schloßbezirk 3, 76131 Karlsruhe über eine Vorlage des Hessischen Landessozialgerichts (1 BvL 1/09) und über zwei Vorlagen des Bundessozialgerichts vom 27. Januar 2009 (1 BvL 3/09 und 1 BvL 4/09) zu der Frage, ob die Regelungen im neuen SGB II, die die Höhe der Regelleistung bei der Grundsicherung für Arbeitssuchende für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres bzw. Familien mit Kindern in diesem Alter betreffen, verfassungsgemäß sind.

Durch das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 (sog. „Hartz IV“) sind mit Wirkung ab dem 1. Januar 2005 die bisherige Arbeitslosenhilfe und die bisherige Sozialhilfe im neu geschaffenen Sozialgesetzbuch (SGB II) in Form einer einheitlichen Grundsicherung für Erwerbsfähige und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zusammengeführt worden. Gleichzeitig wurde das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) aufgehoben und das Sozialhilferecht im SGB XII als bedürftigkeitsabhängige Grundsicherung für solche Personen, die nicht nach dem SGB II leistungsberechtigt sind, neu geregelt.

Leistungsberechtigt nach dem SGB II sind erwerbsfähige Hilfebedürftige und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen. Die Regelleistung für Alleinstehende legte das SGB II zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens auf 345 Euro fest. Die Regelleistung für die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft bestimmt es als prozentuale Anteile davon. Danach ergaben sich zum 1. Januar 2005 für Ehegatten, Lebenspartner und Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft ein Betrag von gerundet 311 Euro, für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahr ein Betrag von gerundet 207 Euro und für Kinder ab Beginn des 15. Lebensjahres ein Betrag von gerundet 276 Euro.

Gegenüber den Regelungen nach dem BSHG werden sowohl die Regelleistung nach dem SGB II als auch der sozialhilferechtliche Regelsatz weitgehend pauschaliert. Einmalige Beihilfen werden nur noch in Ausnahmefällen gewährt. Zur Deckung einmaliger oder unregelmäßig wiederkehrender Bedarfe sind die Regelleistung bzw. die Regelsätze gegenüber der Rechtslage nach dem BSHG erhöht worden, damit Leistungsempfänger entsprechende Mittel ansparen können.

Die Vorlagen der Gerichte beruhen auf folgenden Ausgangsverfahren:

Im Verfahren 1 BvL 1/09 beziehen ein Elternpaar und ihr 1994 geborenes Kind seit dem 1. Januar 2005 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende in Höhe von insgesamt 825 Euro. Die Bewilligung enthielt Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von insgesamt 150 Euro, eine Regelleistung für die Eltern in Höhe von jeweils 311 Euro und eine Regelleistung in Höhe von 53 Euro für das Kind, die sich ausgehend von der gesetzlichen Regelleistung in Höhe von 207 Euro daraus ergab, dass das Kindergeld in Höhe von 154 Euro monatlich angerechnet wurde.

Nachdem Widerspruch und Klage beim Sozialgericht erfolglos waren, legte der 6. Senat des Hessischen Landessozialgerichts dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vor, ob die Höhe der gesetzlichen Regelleistung für die Kläger des Ausgangsverfahrens verfassungsgemäß ist. Der Staat sei verpflichtet, einen am Existenzminimum orientierten Bedarf zu ermitteln und dessen Deckung zu gewährleisten. Die vom Gesetzgeber - durch Bezugnahme auf das SGB XII und die Regelsatzverordnung (RSV) - übernommene Begründung für die in § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 SGB II bei Kindern im Alter von 0 bis 14 Jahren auf 60 Prozent der Regelleistung für Alleinstehende gemäß § 20 Abs. 2 SGB II, d.h. auf 207,- Euro, festgesetzte Regelleistung sei nicht tragfähig. Der Gesetzgeber lasse bei der Bemessung der Regelleistung für Kinder deren Betreuungs- und Erziehungsbedarf unberücksichtigt. Dieser gehöre aber nach einem Beschluss des BVerfG (BVerfGE 99, 216, 231 ff.) zum Existenzminimum. Die Gewährung eines zusätzlichen Betrages für Schulkinder in Höhe von 100 Euro pro Schuljahr ab August 2009 (§ 24a SGB II in der Fassung des FamLeistG) behebe die festgestellte Unterdeckung nicht ansatzweise.

Außerdem verstoße die Regelung gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Zwischen älteren und Kleinkindern werde trotz unterschiedlichen Bedarfs kein Unterschied bei der Höhe der Regelleistung gemacht. Zudem würden gleichaltrige Kinder, deren Eltern Sozialhilfe beziehen, ohne nachvollziehbare Begründung trotz vergleichbarer Bedürfnisse teilweise besser gestellt. Darüber hinaus verstoße die Regelung gegen das Diskriminierungsverbot gegenüber Ehe und Familie (Art. 3 Abs. 1 iVm Art. 6 Abs. 1 GG), weil bei der Bemessung der Regelleistung die Gruppe der Ein-Personen-Haushalte als Referenzgruppe herangezogen worden sei, obwohl deren Einkommens- und Verbrauchsdaten erheblich unter dem Niveau der Familienhaushalte lägen. Das werde auch durch Vorteile gemeinsamen Wirtschaftens nicht ausgeglichen.

Für die aus zwei 1991 und 1993 geborenen Kindern und ihren Eltern bestehende Bedarfsgemeinschaft bewilligte die im Ausgangsverfahren 1 BvL 3/09 beklagte ARGE Regelleistung und Leistungen für Unterkunft und Heizung für Januar 2005 in Höhe von insgesamt 842,59 Euro und für Februar 2005 in Höhe von insgesamt 824,89 Euro. Davon entfielen auf die Kinder jeweils 102,56 Euro für Januar 2005 und jeweils 100,41 Euro für Februar 2005. Bei der Berechnung der Leistungen legte die ARGE eine Regelleistung von jeweils 207 Euro für die Kinder und Kosten der Unterkunft in Höhe von insgesamt 588,02 Euro zugrunde und berücksichtigte als leistungsminderndes Einkommen sowohl das für die Kinder gezahlte Kindergeld als auch Erwerbseinkommen der Eltern. Im Ergebnis handelte es sich bei den zugunsten der Kinder bewilligten Leistungen aufgrund der Regelung der § 9 Abs. 2 Satz 3 und § 19 Satz 2 SGB II a.F. ausschließlich um Leistungen für Unterkunft und Heizung, da das zu berücksichtigende Einkommen den gesetzlichen Betrag der Regelleistung überstieg. Widerspruch und Klagen vor dem Sozialgericht und dem Landessozialgericht gegen diese Festsetzung blieben erfolglos. Mit ihrer vom Bundessozialgericht zugelassenen Revision haben die Kinder als Kläger des Ausgangsverfahrens nicht nur verfassungsrechtliche Einwände gegen die Höhe der gesetzlichen Regelleistung erhoben, sondern auch geltend gemacht, die Leistungen seien nach den geltenden Vorschriften zu niedrig festgesetzt worden, weil insbesondere ein zu hohes Einkommen der Eltern berücksichtigt worden sei.

Das Bundessozialgericht hat dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 28 Abs 1 Satz 3 Nr. 1 SGB II mit Art 3 Abs 1 GG iVm Art 1, 6 Abs 2, 20 Abs 1 GG vereinbar ist, soweit die gesetzliche Regelung für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres eine Regelleistung in Höhe von lediglich 60 vH der Regelleistung für Erwachsene vorsieht, ohne dass der für Kinder notwendige Bedarf ermittelt und definiert wurde.

Anders als bei der Ermittlung der Regelleistung für Alleinstehende habe der Gesetzgeber die von ihm selbst statuierte Sachgesetzlichkeit bei der Festsetzung des kinderspezifischen Bedarfs ohne hinreichenden Grund verlassen. Es fehle an einer eingehenden Begründung auf der Basis einer realitätsbezogenen Erfassung des speziellen Mindestbedarfs von Kindern. Unklar bleibe vor allem, wie sich der Betrag von 207 Euro für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres zusammensetze, und es sei nicht zu erkennen, inwiefern der Gesetz- und Verordnungsgeber Bildungsausgaben in die Regelleistung von Kindern und Jugendlichen einberechnet habe. Durch die Neuregelungen zum 1. August 2009 (§ 24a SGB II in der Fassung des FamLeistG) und zum 1. Juli 2009 (§ 74 SGB II in der Fassung des Gesetzes zur Sicherung von Beschäftigung und Stabilität in Deutschland) werde der aufgezeigte Verfassungsverstoß der Ungleichbehandlung bzw. mangelnden Folgerichtigkeit bei der Festsetzung der Regelleistung für Kinder und Jugendliche zu Beginn des Jahres 2005 nicht geheilt, sondern vielmehr unterstrichen.

Die Verfassungsmäßigkeit der Norm sei auch im Hinblick auf Art 3 Abs 1 GG fraglich, weil das Sozialgeld für Kinder nach dem SGB II abschließend und bedarfsdeckend sein soll, während Kindern von Sozialhilfeempfängern einen davon abweichenden Bedarf geltend machen können.

Schließlich verstoße auch die Festsetzung einer einheitlichen Regelleistung ohne Altersstufen für alle Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Es fehle jegliche Begründung dafür, warum von der bisherigen Differenzierung in § 2 Abs. 3 der Regelsatzverordnung zum BSHG abgewichen worden und für Kinder ab Vollendung des 7. Lebensjahres eine Kürzung vorgenommen worden sei, obwohl, wie der Gesetzgeber nunmehr in § 24a SGB II selbst anerkenne, Schulkinder einen höheren Bedarf aufwiesen als Kinder im Vorschulalter.

Im Verfahren 1 BvL 4/09 erhielt die aus den 1998 und 2000 geborenen Kindern und ihren Eltern bestehende Bedarfsgemeinschaft insgesamt 716,88 Euro monatlich. Davon entfielen jeweils 104,60 Euro monatlich auf die Kinder. Bei der Berechnung der Leistungen berücksichtigte die im Ausgangsverfahren beklagte ARGE das gezahlte Kindergeld und anteilig das Erwerbseinkommen des Vaters. Die nach erfolglosem Widerspruch erhobene Klage blieb in erster und zweiter Instanz ohne Erfolg. Die Vorlagefrage und die Begründung des Aussetzungs- und Vorlagebeschlusses im Verfahren 1 BvL 4/09 ist mit der Vorlagefrage und der Begründung des Aussetzungs- und Vorlagebeschlusses im Verfahren 1 BvL 3/09 weitgehend identisch.


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