Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 6.
Juni 2006, die sich u.a. auch mit der Klage von Abgeordneten des
schwedischen Parlaments, die durch den schwedischen Geheimdienst
bespitzelt worden waren, beschäftigte, war konkreter Anlass für ein
Auskunftsbegehren von vier Abgeordneten des Deutschen Bundestages und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Diese fünf Antragsteller richteten
am 13. Juni 2006 und am 1. August 2006 sog. Kleine Anfragen an die
Bundesregierung, um zu erfahren, ob und ggf. welche Informationen der
Bundesnachrichtendienst und die Nachrichtendienste der Länder über die
Abgeordneten des Deutschen Bundestages sammeln. Die Bundesregierung
lehnte die Antworten teilweise mit dem Hinweis darauf ab, dass sie sich
zu der Arbeitsweise, der Strategie und dem Erkenntnisstand der
Nachrichtendienste des Bundes, die geheimhaltungsbedürftig seien,
grundsätzlich nur in den dafür vorgesehenen besonderen Gremien des
Deutschen Bundestages äußere. Weiterhin verwies sie darauf, dass sie dem
Parlamentarischen Kontrollgremium am 5. April 2006 darüber berichtet
habe, und dass sie zu den rechtlichen Voraussetzungen und Grenzen der
nachrichtendienstlichen Beobachtung von Abgeordneten auch gegenüber dem
Ältestenrat des Deutschen Bundestages Stellung genommen habe bzw. sich
dazu nur in in den dafür vorgesehenen besonderen Gremien des Deutschen
Bundestages äußern werde. Auf einzelne Fragen gab die Bundesregierung
keine Auskunft mit der Begründung, dass die Tätigkeit der
Nachrichtendienste gefährdet würde. Hinsichtlich der Fragen zu
Sachverhalten vor der 9. Wahlperiode des Deutschen Bundestages wies die
Bundesregierung auf die gesetzlichen Löschungspflichten hin, aufgrund
derer die entsprechenden Datensätze nicht mehr vorliegen. Gegebenenfalls
vorhandene Informationen zu den die Zeiträume der Anfrage betreffenden
Altakten könnten nicht innerhalb des im Rahmen einer "Kleinen Anfrage"
gemäß § 104 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zur Verfügung
stehenden Zeitraums erschlossen werden.
Im Organstreitverfahren beantragten die vier Abgeordneten des Deutschen
Bundestages und der Frakti-on Bündnis 90/Die Grünen als Antragsteller
die Feststellung, dass die Bundesregierung mit ihren Ant-worten auf
diese "Kleinen Anfragen" ihre und die Rechte des Deutschen Bundestages
verletzt habe. Ferner begehren sie die Verpflichtung der Bundesregierung
zur Erteilung der erbetenen Auskünfte, hilfsweise, die Auskünfte so weit
und in einer Form zu erteilen, die den objektiven
Geheimhaltungsinteressen der Bundesrepublik Deutschland Rechnung tragen.
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts stellte in seinem
Beschluss vom 1. Juli 2009 fest, dass die Bundesregierung den
Antragstellern die in den "Kleinen Anfragen" vom 13. Juni 2006 und vom
1. August 2006 erbetenen Auskünfte mit verfassungsrechtlich nicht
tragfähigen Begründungen verweigert und dadurch die Rechte der
Antragsteller aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG sowie des Deutschen
Bundestages aus Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt hat. Insbesondere der
Verweis auf eine Berichterstattung gegenüber anderen parlamentarischen
Kontrollgremien entbindet die Bundesregierung nicht von ihrer
Berichtspflicht gegenüber dem Bundestag. Auch die pauschale Begründung
der Ablehnung mit der Geheimhaltungsbedürftigkeit der verlangten
Informationen entspricht nicht den verfassungsgemäßen Anforderungen.
Teilweise sind die Anträge unzulässig, weil sich die Antragsbegründung
nicht mit den Antworten auf die genannten Fragen auseinandersetzt, und
soweit sie eine Verpflichtung der Bundesregierung auf Auskunftserteilung
betreffen.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist geklärt und
zwischen den Beteiligten nicht strittig, dass aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2
und Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG ein Frage- und Informationsrecht des
Deutschen Bundestages gegenüber der Bundesregierung folgt. An diesem
haben die einzelnen Abgeordneten und die Fraktionen als Zusammenschlüsse
von Abgeordneten nach Maßgabe der Ausgestaltung in der Geschäftsordnung
des Deutschen Bundestages teil und es besteht grundsätzlich eine
Antwortpflicht der Bundesregierung. Ebenso steht außer Frage, dass die
Antwortpflicht der Bundesregierung Grenzen unterliegt. Die nähere
Grenzziehung bedarf allerdings der Würdigung im Einzelfall. Insbesondere
soweit Anfragen Umstände betreffen, die aus Gründen des Wohls des Bundes
oder eines Landes (Staatswohl) geheimhaltungsbedürftig sind, stellt sich
die Frage, ob und auf welche Weise dieses Anliegen mit dem jeweiligen
parlamentarischen Informationsanspruch in Einklang gebracht werden kann.
Es kann dahingestellt bleiben, ob der Gesetzgeber von Verfassungs wegen
das Informationsrecht des Deutschen Bundestages in der Weise regeln
dürfte, dass die Bundesregierung Auskünfte über die
nach-richtendienstliche Tätigkeit des Bundes, die sie für
geheimhaltungsbedürftig hält, nur einem bestimmten Gremium des Deutschen
Bundestages zu erteilen hätte. Denn eine derartige Regelung besteht
nicht: Das Parlamentarische Kontrollgremium ist ein zusätzliches
Instrument parlamentarischer Kontrolle der Regierung, das
parlamentarische Informationsrechte nicht verdrängt (vgl. auch BTDrucks
8/1599, S. 6). Denn sonst hätte sich der Deutsche Bundestag mit der
Einrichtung des Parlamentarischen Kontrollgremiums wesentlicher
Informationsmöglichkeiten begeben und die Kontrolle gegenüber der
Bundesregierung in Bezug auf die nachrichtendienstliche Tätigkeit des
Bundes nicht etwa verbessert, sondern verschlechtert.
Soweit sich die Rechtsauffassung der Antragsgegnerin auf andere Gremien
des Deutschen Bundestages beziehen soll, gilt nichts anderes.
Insbesondere wird das parlamentarische Fragerecht nicht durch die
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses oder die Befassung des
Ältestenrates (§ 6 GO-BT) mit die-sen Fragestellungen verdrängt.
Im Ergebnis liegt auch ein Verstoß darin, die Verweigerung von
Auskünften nur mit Geheimhaltungsbe-dürftigkeit zu begründen. Die
Bundesregierung muss - auch im Hinblick auf das Gebot gegenseitiger
Rücksichtnahme im Verhältnis zwischen Verfassungsorganen - den Bundestag
in die Lage versetzen, seine Aufgabe der parlamentarischen Kontrolle des
Regierungshandelns effektiv wahrzunehmen. Abge-sehen von Fällen
evidenter Geheimhaltungsbedürftigkeit kann das Parlament nur anhand
einer der jewei-ligen Problemlage angemessenen ausführlichen Begründung
beurteilen und entscheiden, ob es die Ver-weigerung der Antwort
akzeptiert oder welche weiteren Schritte es unternimmt, sein
Auskunftsverlangen ganz oder zumindest teilweise durchzusetzen.
Zudem ist auch nicht ersichtlich, dass die von den Antragstellern
erbetenen Informationen ge-heimhaltungsbedürftig sind, soweit die
genannten Fragen Auskünfte über die Sammlung, Speicherung und Weitergabe
von Daten über Abgeordnete des Deutschen Bundestages durch die
Nachrichtendienste des Bundes betreffen. Es drängt sich nicht auf, dass
mit der Beantwortung dieser Fragen eine, wie die Antragsgegnerin
ausgeführt hat, Offenlegung von Einzelheiten zu Arbeitsweisen,
Strategien, Methoden und Erkenntnisstand der Nachrichtendienste
einherginge, die deren Arbeitsfähigkeit und Aufgabenerfül-lung
gefährdete (BTDrucks 16/2098 zu Frage 5).
Die pauschale Behauptung, durch die Beantwortung der Fragen würden
Rückschlüsse auf die Tätigkeit der Nachrichtendienste ermöglicht, die
deren Arbeitsfähigkeit und Aufgabenerfüllung gefährdeten, enthält
keinerlei konkrete Angaben, die die Auskunftsverweigerung
nachvollziehbar machen könnte. Die nachrichtendienstliche Beobachtung
von Abgeordneten birgt erhebliche Gefahren im Hinblick auf ihre
Unabhängigkeit (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) und auf die Mitwirkung der
betroffenen Parteien bei der politischen Willensbildung (Art. 21 GG) und
damit für den Prozess demokratischer Willensbildung insgesamt. Das
diesbezügliche Informationsbedürfnis des Parlaments hat hohes Gewicht.
Soll sich demgegenüber der Geheimnisschutz als gegenläufiger Belang
durchsetzen, bedarf es einer besonderen Begründung.
Die Antragsgegnerin hat die Antragsteller in ihren verfassungsmäßigen
Rechten weiter dadurch verletzt, dass sie die Frage, ob ihr Fälle der
Sammlung, Speicherung oder Weitergabe von Informationen über Abgeordnete
bekannt seien, die andere Dienste, insbesondere Dienste der Länder,
getätigt haben, dahin beantwortet hat, dass sie sich nicht zu
Angelegenheiten äußere, die in den Zuständigkeitsbereich der Länder
fallen. Die Bundesregierung war zu einer nicht lediglich pauschalen,
sondern zu einer eingehenden Begründung aufgrund der Fragestellungen
verpflichtet, weil diese erkennbar auch auf den Verantwor-tungsbereich
der Bundesregierung bezogen waren. Gegenstand der Anfragen war zum einen
die Tätigkeit der der Antragsgegnerin unmittelbar nachgeordneten
Behörden und zum anderen der Kenntnisstand der Antragsgegnerin zu
Aktivitäten anderer Geheimdienste.
Auch der Hinweis auf gesetzliche Löschungspflichten reicht als
Begründung für die Verweigerung der Auskunft nicht aus. Da sich der
parlamentarische Informationsanspruch im Hinblick auf die mögliche
politische Bedeutung auch länger zurückliegender Vorgänge auf Fragen
erstreckt, die den Verantwortungsbereich früherer Bundesregierungen
betreffen, können die Bundesregierung zudem im Rahmen des Zumutbaren
Rekonstruktionspflichten treffen. Mit dem bloßen Hinweis auf gesetzliche
Löschungspflichten hat die Antragsgegnerin danach nicht ausreichend
dargelegt, die gewünschten Informationen nicht beschaffen zu können. Sie
hat auch nicht vorgetragen, dass dies nur mit un-zumutbarem Aufwand
möglich sei.
Auch der Hinweis auf die Unmöglichkeit einer Antwort innerhalb der in
der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vorgesehenen Frist lässt
außer Betracht, dass die in § 104 Abs. 2 Halbsatz 1 GO-BT enthaltene
Frist von 14 Tagen im Benehmen mit den Fragestellern verlängert werden
kann (§ 104 Abs. 2 Halbsatz 2 GO-BT).
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