Der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts hat am 10. Juni 2009 über
mehrere Verfassungsbeschwerden entschieden, die sich gegen Vorschriften
des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen
Krankenversicherung vom 26. März 2007 (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz)
und gegen Normen des Gesetzes zur Reform des Vertragsversicherungsrechts
vom 23. November 2007 richteten.
Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz hält das zweigliedrige
Krankenversicherungssystem von gesetzlicher und privater
Krankenversicherung aufrecht, hat aber zum 1. Januar 2009 erhebliche
Neuerungen eingeführt. Es begründet eine Versicherungspflicht für alle
Einwohner Deutschlands in der gesetzlichen oder der privaten
Krankenversicherung. Neben verschiedenen Neuregelungen, welche den
Wettbewerb durch eine größere Vertragsfreiheit der Krankenkassen stärken
sollen, zielt das Gesetz auf eine Verbesserung der Wahlrechte und
Wechselmöglichkeiten in der privaten Krankenversicherung durch
Einführung einer teilweisen Übertragbarkeit von Alterungsrückstellungen
sowie die Einführung eines Basistarifs. Gesetzliche und private
Krankenversicherung sollen als jeweils eigene Säule für die ihnen
zugewiesenen Personenkreise einen dauerhaften und ausreichenden
Versicherungsschutz gegen das Risiko der Krankheit auch in sozialen
Bedarfssituationen sicherstellen.
Die dagegen gerichteten Verfassungsbeschwerden von fünf
Krankenversicherungsunternehmen und drei privat krankenversicherten
Beschwerdeführern hat das Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen. Die
überprüften Vorschriften verletzen die Beschwerdeführer nicht in
Grundrechten, insbesondere nicht in ihrer Berufs- und
Vereinigungsfreiheit. Die dem Gesetz zugrunde liegenden Prognosen sind
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden; den Gesetzgeber trifft jedoch
eine Beobachtungspflicht.
Maßgebend waren dafür folgende Erwägungen:
Die Vorschriften über den Basistarif in der privaten Krankenversicherung
beschränken zwar die Berufsausübung der privaten
Krankenversicherungsunternehmen. Sie sind aber im Hinblick auf die von
ihnen verfolgten Ziele gerechtfertigt und derzeit nach der nicht zu
beanstandenden Prognose des Gesetzgebers nicht als so schwerwiegend
anzusehen, dass sie die Funktionsfähigkeit der privaten
Krankenversicherung in Zukunft ausschließen. Zwar müssen die Unternehmen
neben ihren Normaltarifen nunmehr zusätzlich einen Basistarif anbieten
und dort auf Antrag Versicherungsschutz gewähren. Die sinnvolle Ausübung
des Berufs eines privaten Krankenversicherers wird dadurch aber weder
unmöglich noch nachhaltig erschwert. Soweit Personen den Basistarif
wählen, könnten die Unternehmen zwar gezwungen sein, diese im Einzelfall
zu nicht risikogerechten Prämien zu versichern, weil die Prämie im
Basistarif in der Höhe begrenzt ist und Risikozuschläge und
Leistungsausschlüsse nicht zulässig sind. Die möglicherweise eintretende
Unterdeckung tragen jedoch nicht die Versicherungsunternehmen, sondern
die Versicherten der privaten Krankenversicherung im Wege einer Umlage.
Dabei konnte der Gesetzgeber im Rahmen seines Prognosespielraums
vertretbar davon ausgehen, dass der Basistarif auf absehbare Zeit keine
bedeutsamen Auswirkungen auf das Geschäft der privaten
Krankenversicherungen haben wird. Jedenfalls derzeit kann ausgeschlossen
werden, dass viele Versicherte in den Basistarif wechseln werden. Denn
für diesen Tarif muss eine hohe Prämie von rund 570 Euro monatlich
gezahlt werden. Gleichzeitig bietet der Basistarif aber in seinen
zentralen Leistungen nicht den üblichen Leistungsumfang der Normaltarife
der privaten Krankenversicherung. Entgegen den Befürchtungen der
Unternehmen konnte der Gesetzgeber deshalb davon ausgehen, dass es zur
Finanzierung des Basistarifs mit seinen eventuell nicht kostendeckenden
Prämien in den Normaltarifen der privaten Krankenversicherung nicht zu
überproportionalen Prämiensteigerungen kommen werde und dass dies in
Zukunft zu keinem erheblichen Wechsel in den Basistarif führen werde,
der auf Dauer das gesamte Geschäftsmodell der privaten
Krankenversicherung zerstören würde. Sollte sich diese vertretbare
Prognose in Zukunft als Irrtum darstellen, wäre der Gesetzgeber
gegebenenfalls zur Korrektur verpflichtet.
Für das im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz formulierte Ziel, allen
Einwohnern der Bundesrepublik Deutschland einen bezahlbaren
Krankenversicherungsschutz in der gesetzlichen oder in der privaten
Krankenversicherung zu sichern, kann sich der Gesetzgeber auf das
Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes berufen. Die Verbindung von
Versicherungspflicht und Kontrahierungszwang im Basistarif ist zur
Erreichung des gesetzgeberischen Ziels geeignet, dem der privaten
Krankenversicherung zugewiesenen Personenkreis einen ausreichenden und
bezahlbaren Krankenversicherungsschutz zu gewährleisten. Ohne den
Kontrahierungszwang hätten insbesondere Personen mit gravierenden
Vorerkrankungen keine Möglichkeit, in eine private Krankenversicherung
aufgenommen zu werden, weil diese sie wegen des erhöhten Risikos nicht
aufnehmen würde. Auch mit den weiteren Vorschriften zum Basistarif hat
der Gesetzgeber den ihm zustehenden Gestaltungsspielraum nicht
überschritten; insbesondere war er nicht verpflichtet, den Basistarif
auf eine minimale Grundsicherung zu beschränken.
Das durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz eingeführte absolute
Kündigungsverbot für Krankenkostenvollversicherungen ist ein
gerechtfertigter Eingriff, damit die Mitglieder der privaten
Krankenversicherung in gleicher Weise wie im Rahmen der
öffentlichrechtlichen Versicherung umfassend, rechtssicher und dauerhaft
abgesichert sind. Gleiches gilt für die Pflicht der Unternehmen, ihren
Versicherten selbst im Fall des Zahlungsverzugs eine Notversorgung
erbringen zu müssen.
Die Einführung einer teilweisen Portabilität der Alterungsrückstellungen
für Neukunden der privaten Krankenversicherung ist mit dem Grundgesetz
vereinbar. Die bisher von den Unternehmen ausnahmslos gewählte
Vertragsgestaltung, wonach bei einer Kündigung des Versicherungsvertrags
kein Anspruch auf Übertragung der für den Versicherungsnehmer gebildeten
Alterungsrückstellung bestand, ist damit für die Zukunft ausgeschlossen.
Dieser Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der
Krankenversicherungsunternehmen ist durch legitime Gemeinwohlinteressen
gerechtfertigt. Der Gesetzgeber verfolgt mit der Portabilität der
Alterungsrückstellungen das Ziel, im Markt der privaten
Krankenversicherungen einen funktionierenden Wettbewerb herzustellen und
den Versicherten einen Wechsel zu einem anderen Versicherungsunternehmen
zu erleichtern. Die beschwerdeführenden Unternehmen haben im Verfahren
selbst eingeräumt, dass es für Bestandskunden der privaten
Krankenversicherung ab einem gewissen Alter bisher praktisch unmöglich
war, ihre Krankenversicherung zu wechseln, weil der damit verbundene
Verlust der Alterungsrückstellungen dazu führte, dass ein neuer
Versicherer seine Kalkulationen ohne diese Rücklage vornehmen musste und
deshalb erhöhte Prämien verlangte.
Die Einführung einer teilweisen Portabilität der Alterungsrückstellung
stellt keinen wegen der Gefahr einer Risikoselektion im Bestand der
Unternehmen unzumutbaren Eingriff dar. Zwar setzt die dauerhafte
Erfüllbarkeit der Krankenversicherungsverträge durch die Unternehmen
jedenfalls im Grundsatz voraus, dass sich unter ihren
Versicherungsnehmern in ausreichendem Maße solche mit guten Risiken
befinden. Ein stetiges Abwandern von Versicherten mit guten Risiken mit
der Folge, dass in einem Unternehmen nur noch Menschen mit schlechten
Risiken und hohen Krankheitskosten versichert sind, könnte letztlich bis
hin zur Insolvenz des Unternehmens führen. In der Reformdiskussion der
Vergangenheit wurden deshalb Modelle abgelehnt, die eine Übertragbarkeit
der vollen kalkulierten Alterungsrückstellung vorsahen, weil sie die
Gefahr einer unvertretbaren Risikoselektion und Entmischung in sich
tragen würden. Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz sieht jedoch nicht die
Übertragung der vollen kalkulierten Alterungsrückstellung, sondern
lediglich deren Übertragung im Umfang der dem Basistarif entsprechenden
Leistungen vor. Bei einem Versichererwechsel wird daher auch unter der
Geltung des neuen Rechts ein erheblicher Anteil der für den
Versicherungsnehmer in seinem Normaltarif gebildeten
Alterungsrückstellung bei dem bisherigen Unternehmen verbleiben. Die
Neuregelung erhöht zwar das Risiko einer Abwanderung von Versicherten,
bietet aber auch gesteigerte Chancen, durch Wechsel Kunden
hinzuzugewinnen. Der Wettbewerb zwischen den Versicherungsunternehmen
wird damit auf verträgliche Weise gefördert.
Auch die zeitlich auf das erste Halbjahr 2009 begrenzte Einführung einer
teilweisen Portabilität bei Verträgen, die vor dem 1. Januar 2009
abgeschlossen worden sind, ist verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden. Es handelt sich um eine die Unternehmen lediglich gering
belastende Regelung, denn die Mitnahme eines Teils der
Alterungsrückstellung wird lediglich in dem Basistarif ermöglicht, der
jedoch für den durchschnittlichen Versicherten der privaten
Krankenversicherung wegen seines schlechteren Leistungsniveaus bei
gleichzeitig hoher Prämie ökonomisch in der Regel nicht interessant ist.
Die von den beschwerdeführenden Unternehmen als Anreiz zum Wechsel
beanstandete Möglichkeit, aus dem Basistarif sofort in den Normaltarif
des aufnehmenden Unternehmens zu wechseln, ist durch eine Ende 2008
erfolgte Rechtsänderung faktisch beseitigt worden.
Die von einem bisher privat krankenversicherten Beschwerdeführer, aber
auch von verschiedenen Krankenversicherungsunternehmen angegriffene
Vorschrift des § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V in der Fassung durch das
GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
Genügte es bei Arbeitern und Angestellten für die Befreiung von der
Versicherungspflicht bisher, dass ihr regelmäßiges Arbeitsentgelt in
einem Jahr über einem bestimmten Betrag lag
(Jahresarbeitsentgeltgrenze), so muss es nun in drei aufeinander
folgenden Kalenderjahren darüber liegen, bevor Versicherungsfreiheit
eintritt. Die Regelung ist den betroffenen Versicherten zumutbar. Der
Gesetzgeber hat lediglich den Zeitraum verlängert, in dem Versicherte in
der gesetzlichen Krankenversicherung verbleiben müssen, bevor sie sich
für einen Wechsel in die private Krankenversicherung entscheiden können.
Damit sollen insbesondere Beschäftigte, welche zuvor unter Umständen
jahrzehntelang als beitragsfrei Familienversicherte, als Auszubildende
oder Berufsanfänger mit geringem Arbeitsentgelt von den Leistungen der
Solidargemeinschaft profitiert haben, bei ihrem erstmaligen
Überschreiten der Jahresarbeitsentgeltgrenze für einen gewissen Zeitraum
weiterhin an die Solidargemeinschaft gebunden werden. Aber auch für
Personen wie akademische Berufsanfänger, die nach bisherigem Recht schon
mit der erstmaligen Aufnahme einer versicherungspflichtigen
Beschäftigung aufgrund der Höhe ihres Verdienstes versicherungsfrei
waren, ist die Versicherungspflicht für mindestens drei Jahre zumutbar.
Der Gesetzgeber kann den Nachweis des Überschreitens der
Jahresarbeitsentgeltgrenze davon abhängig machen, dass diese
Überschreitung von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Stetigkeit ist.
Die Entscheidung zur Dreijahresfrist ist im Stimmenverhältnis 5:3, im
Übrigen ist die Entscheidung einstimmig ergangen.
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