Der 59 Jahre alte Beschwerdeführer verbüßt wegen Mordes eine lebenslange
Freiheitsstrafe. Die Mindestverbüßungsdauer von 15 Jahren war Mitte Juni
2008 abgelaufen. Mit dem hier angegriffenen Beschluss vom 19. Juni 2008
hat das Landgericht die Aussetzung des Restes der lebenslangen
Freiheitsstrafe abgelehnt, da eine Aussetzung angesichts der bislang
unterbliebenen Erprobung des Beschwerdeführers in Vollzugslockerungen
mit einem unvertretbar hohen Risiko verbunden sei. Das Oberlandesgericht
verwarf mit hier angegriffenem Beschluss vom 26. August 2008 die
sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers als unbegründet. Seit Anfang
Januar 2006 hatte sich der Beschwerdeführer ohne Erfolg um
Vollzugslockerungen bemüht.
Die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die
angegriffenen Beschlüsse aufgehoben und die Sache zur erneuten
Entscheidung über die Aussetzung des Restes der lebenslangen
Freiheitsstrafe an das Landgericht zurückverwiesen. Die Beschlüsse
verletzen den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht (Art. 2
Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG), weil sie auf
unzureichender Sachverhaltsaufklärung beruhen. Die Gerichte haben eine
Entlassung des Beschwerdeführers auf Bewährung unter Hinweis auf seine
fehlende Erprobung in Lockerungen abgelehnt, ohne eigenständig zu
prüfen, ob die Versagung von Lockerungen durch die JVA rechtmäßig war.
Nur wenn die Versagung auf hinreichendem Grund beruht, darf die fehlende
Erprobung des Gefangenen bei der Prognose ohne Einschränkungen zu seinem
Nachteil verwertet werden.
Maßgeblich für die Entscheidung der Kammer waren folgende Erwägungen:
Ob die Aussetzung des Restes der lebenslangen Freiheitsstrafe unter
Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit
verantwortet werden kann, verlangt den Gerichten eine
Prognoseentscheidung ab. Dabei haben sie sich von Verfassungs wegen um
eine möglichst breite Tatsachenbasis für die Prognose zu bemühen und
alle prognoserelevanten Umstände besonders sorgfältig zu klären.
Vollzugslockerungen haben für die Prognose besondere Bedeutung. Die
Entscheidung über Lockerungen, die zunächst die Art und Weise des
Freiheitsentzugs regeln und damit in erster Linie den Vollzugsalltag des
Gefangenen betreffen, obliegt der JVA und ist gerichtlich in einem
eigenständigen Rechtszug nach dem Strafvollzugsgesetz nachprüfbar.
Vollzugslockerungen haben aber - weitergehend - unmittelbaren Einfluss
auf die Entscheidung der Gerichte über die Aussetzung des Strafrestes.
Für die Gerichte im Aussetzungsverfahren erweitert und stabilisiert sich
die Prognosebasis, wenn dem Gefangenen zuvor Lockerungen gewährt worden
sind: Gerade das Verhalten eines Gefangenen anlässlich solcher
Belastungserprobungen stellt einen geeigneten Indikator für sein
Verhalten in Freiheit dar.
Wegen dieser besonderen Bedeutung von Vollzugslockerungen und weil die
Verfassung Entscheidungen über die Freiheitsentziehung - zu denen die
Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes zählt - alleine dem
Richter anvertraut, dürfen sich die Gerichte im Aussetzungsverfahren
nicht damit abfinden, dass die JVA als Exekutive die Prognosebasis durch
eine möglicherweise rechtswidrige Versagung von Lockerungen schmälert
und die richterliche Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes
auf diesem Wege präjudiziert. Vielmehr haben die zur Entscheidung über
die Strafaussetzung berufenen Gerichte eigenständig zu prüfen, ob die
Vollzugsbehörde Lockerungen in der Vergangenheit rechtmäßig versagt hat.
Dies gilt auch dann, wenn die Frage der Rechtmäßigkeit der
Lockerungsversagung bereits Gegenstand gerichtlicher Überprüfung nach
dem Strafvollzugsgesetz war. Denn die Verfassung vertraut die
Entscheidung über die Freiheitsentziehung dem im konkreten Verfahren zur
Entscheidung über den Freiheitsentzug berufenen Richter an. Das sind
hier alleine die zur Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes
berufenen Gerichte. Sie dürfen sich allerdings - im Wege einer
nachvollziehenden Prüfung - die Gründe rechtskräftiger
Gerichtsentscheidungen im Verfahren nach dem Strafvollzugsgesetz zueigen
machen, soweit die Lockerungsversagung dort inhaltlich hinreichend
überprüft worden ist. Denn auch dann ist sichergestellt, dass das zur
Entscheidung über die Aussetzung berufene Gericht volle Verantwortung
für die Rechtfertigung der Fortdauer des Freiheitsentzugs übernehmen
kann.
Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Beschlüsse nicht gerecht. Das
Landgericht hat die Rechtmäßigkeit der Versagung von Lockerungen
überhaupt nicht geprüft, sondern lediglich auf die noch nicht
abgeschlossene gerichtliche Klärung der Rechtmäßigkeit der
Lockerungsversagung im Verfahren nach dem Strafvollzugsgesetz verwiesen.
Ein solches Vorgehen ist verfassungsrechtlich unhaltbar, auch deshalb,
weil sonst Verzögerungen im Verfahren nach dem Strafvollzugsgesetz, die
vom Gefangenen nicht zu vertreten sind, ohne sachlichen Grund zu seinem
Nachteil auf das Aussetzungsverfahren durchschlagen könnten. Auch das
Oberlandesgericht hat die Erforderlichkeit einer inhaltlichen
Auseinandersetzung mit der Tragfähigkeit der (bisherigen) Verweigerung
von Lockerungen verkannt. Mit dem Hinweis, dass von einer unberechtigten
Versagung von Lockerungen deshalb keine Rede sein könne, weil der
Beschwerdeführer mit seinem Verzicht auf eine Rechtsbeschwerde den
Rechtsweg im Verfahren nach dem Strafvollzugsgesetz nicht ausgeschöpft
habe, schließt das Oberlandesgericht die Rechtmäßigkeit der bisherigen
Versagung von Lockerungen unzureichend aus der formellen Rechtskraft der
die Entscheidung der JVA bestätigenden - mittlerweile ergangenen -
erstinstanzlichen Entscheidung. Dabei wäre wegen - dem Beschwerdeführer
nicht anzulastenden - Verzögerungen im Verfahren nach dem
Strafvollzugsgesetz über die Rechtsbeschwerde ohnehin erst nach der -
hier angegriffenen - Aussetzungsentscheidung des Landgerichts
entschieden worden.
Bei rechtswidriger Versagung von Lockerungen über einen
prognoserelevanten Zeitraum sind die daraus zu ziehenden Konsequenzen
vor dem Hintergrund des Spannungsverhältnisses zwischen dem
Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit und dem Freiheitsgrundrecht des
Gefangenen zu finden. Dies schließt im Einzelfall eine Verwertung des
Umstandes fehlender Erprobung verbunden mit dem Hinweis an die
Vollzugsbehörde, dass Lockerungen nunmehr geboten sind, ebensowenig aus
wie die - bei langen Haftzeiten nur ausnahmsweise in Betracht kommende -
sofortige Freilassung, wenn dem Freiheitsgrundrecht nur noch auf diesem
Wege zum Durchbruch verholfen werden kann. Daneben kommt auch ein
Vorgehen nach § 454a Abs. 1 StPO in Betracht. Nach dieser Vorschrift
kann das Gericht die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung anordnen,
ohne dass dies zur sofortigen Entlassung des Gefangenen führt, indem das
Gericht den zukünftigen Entlassungszeitpunkt so festlegt, dass der
Vollzugsbehörde ein angemessener Zeitraum für eine aussagekräftige
Erprobung zur Verfügung steht. Dies führt nicht notwendigerweise zu
einer unangemessenen Risikoverlagerung auf die Allgemeinheit, denn das
Vollstreckungsgericht kann die Strafaussetzung bis zur Entlassung des
Betroffenen wieder aufheben, wenn aufgrund neu eingetretener oder
bekanntgewordener Tatsachen - namentlich bei gefährlichkeitsindizierende
r Nichtbewährung des Betroffenen in den dann erforderlichen Lockerungen
- unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit
nicht mehr verantwortet werden kann (§ 454a Abs. 2 StPO). Es ist Sache
der Vollstreckungsgerichte, die im Einzelfall angemessene Reaktion auf
ein von der Vollzugsbehörde infolge rechtswidriger Versagung von
Lockerungen zu verantwortendes Prognosedefizit zu finden. Diese Reaktion
muss sich aber als hinreichend effektiv erweisen. Dies wird das
Landgericht bei der neu zu treffenden Aussetzungsentscheidung zu
beachten haben, wenn es aufgrund der - verfassungsrechtlich gebotenen -
eigenständigen Prüfung zum Ergebnis kommt, dass Lockerungen seit Januar
2006 ohne hinreichenden Grund unterblieben sind.
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