Mit dem am 1. Oktober 2008 in Kraft getretenen Bayerischen
Versammlungsgesetz (BayVersG), das für das Gebiet des Freistaates Bayern
an die Stelle des Versammlungsgesetzes des Bundes (VersG) gerückt ist,
hat ein Bundesland erstmalig von der den Bundesländern seit der
Föderalismusreform zustehenden Kompetenz für das Versammlungsrecht
Gebrauch gemacht. Hierbei knüpft der Bayerische Gesetzgeber zwar
vielfach an bestehende Regelungen des VersG an, bildet die Vorschriften
jedoch unter Berufung auf ein eigenständiges rechts und
ordnungspolitisches Konzept fort und erhöht hierbei die Anforderungen
an die Durchführung von Versammlungen. So werden unter anderem die
Bekanntgabe-, Anzeige- und Mitteilungspflichten für Veranstalter von
Versammlungen erheblich formalisiert und ausgeweitet, die
Mitwirkungspflicht und die Verantwortlichkeit des Leiters einer
Versammlung ausgedehnt und für Versammlungsteilnehmer ein allgemeines
Militanzverbot eingeführt (Art. 3 Abs. 3, Art. 4 Abs. 3, Art. 7 Abs. 2
und Art. 13 Abs. 1 und 2 BayVersG). An diese Ge- und Verbote schließen
sich Ordnungswidrigkeitentatbestände an, wonach den Betroffenen im Fall
eines Verstoßes ohne vorausgehende verwaltungsrechtliche Verfügungen
unmittelbar eine Geldbuße auferlegt werden kann (Art. 21 Nr. 1, 2, 7, 13
und 14 BayVersG). Auch wird eine Befugnis der Versammlungsbehörde
geregelt, die vom Veranstalter benannten Leiter und Ordner abzulehnen,
wenn sie unzuverlässig oder ungeeignet sind. Weiter ist der Katalog für
polizeiliche Beobachtungs und Dokumentations¬maßnahmen erweitert worden
(Art. 9 Abs. 2 und 4 BayVersG). Die Vorschrift ermächtigt die Polizei,
zur Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes Übersichtsaufnahmen (Art. 9
Abs. 2 Satz 1 BayVersG) und zur Auswertung des polizeitaktischen
Vorgehens auch Übersichtsaufzeichnungen (Art. 9 Abs. 2 Satz 2 BayVersG)
von Versammlungen anzufertigen, wobei letztere für Anschlussnutzungen
längerfristig und eventuell sogar unbegrenzt gespeichert werden können.
Dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung liegt eine
Verfassungsbeschwerde mehrerer Landesverbände von Gewerkschaften und
Parteien sowie anderer nichtstaatlicher Organisationen gegen annähernd
das gesamte BayVersG zugrunde. Die Beschwerdeführer rügen einen
versammlungsfeindlichen Charakter des Gesetzes als Ganzes sowie seiner
Regelungen im Einzelnen. Die Vorschriften führten zu bürokratischer
Gängelei und Kontrolle der Bürger, die von der Wahrnehmung der
Versammlungsfreiheit abschreckten. Ausdrücklich ausgenommen von den
Angriffen sind allerdings die Vorschriften, die spezifischen Gefahren
rechtsextremistischer Versammlungen begegnen sollen (Art. 15 Abs. 2 Nr.
1a und 2 BayVersG).
Der Antrag der Beschwerdeführer, das BayVersG im Wege der einstweiligen
Anordnung bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde außer
Kraft zu setzen, hatte teilweise Erfolg. Der Erste Senat des
Bundesverfassungsgerichts hat die Bußgeldvorschriften bezüglich der
Bekanntgabe-, Anzeige- und Mitteilungspflichten der Veranstalter, der
Mitwirkungspflicht des Leiters und des Militanzverbots der Teilnehmer
einstweilen außer Kraft gesetzt. Auch werden die Befugnisse für
polizeiliche Beobachtungs- und Dokumentationsmaßnahmen im Zusammenhang
mit Versammlungen einstweilen modifizierend eingeschränkt. So sind
insbesondere Übersichtsaufzeichnungen, bei denen eine Speicherung des
Versammlungsgeschehens erfolgt, nur zulässig, wenn tatsächliche
Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von der Versammlung
erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung
ausgehen. Eine Auswertung der Übersichtsaufzeichnungen ist nur
unverzüglich nach Beendigung der Versammlung zulässig. Soweit danach die
Daten nicht in Bezug auf einzelne Personen zur Verfolgung von Straftaten
im Zusammenhang mit der aufgezeichneten Versammlung oder zur Abwehr
künftiger versammlungsspezifischer Gefahren benötigt werden, müssen sie
innerhalb von zwei Monaten gelöscht oder irreversibel anonymisiert
werden. Übersichtsaufnahmen zur Lenkung und Leitung des
Polizeieinsatzes, bei denen die Bilder von dem Versammlungsgeschehen
ohne Speicherung in eine Einsatzzentrale in Echtzeit übertragen werden,
sind dagegen nur zulässig, wenn sie wegen der Größe oder
Unübersichtlichkeit der Versammlung im Einzelfall erforderlich sind. Im
Übrigen lehnte der Senat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung ab.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
Das Bundesverfassungsgericht darf von seiner Befugnis, das Inkrafttreten
eines Gesetzes zu verzögern oder ein in Kraft getretenes Gesetz wieder
außer Kraft zu setzen, nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch machen, da
der Erlass einer solchen einstweiligen Anordnung stets ein erheblicher
Eingriff in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ist. Ein Gesetz darf
deshalb bei noch offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens nur
dann vorläufig außer Kraft gesetzt werden, wenn die Nachteile, die mit
seiner Geltung nach späterer Feststellung seiner Verfassungswidrigkeit
verbunden wären, ganz besonderes Gewicht haben und in Ausmaß und Schwere
deutlich die Nachteile überwiegen, die im Falle der vorläufigen
Außerkraftsetzung eines sich als verfassungsgemäß erweisenden Gesetzes
einträten.
Nach diesen Maßstäben ist aufgrund der im Verfahren des einstweiligen
Rechtsschutzes gebotenen Folgenabwägung dem Antrag auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung teilweise stattzugeben.
1. Die Bußgeldvorschriften des Art. 21 Nr. 1, 2, 7, 13 und 14 BayVersG
sind vorläufig außer Kraft zu setzen. Sie erheben den Verstoß gegen
weitreichende versammlungsrechtliche Ge- und Verbote unmittelbar zu
einer Ordnungswidrigkeit. Als förmliche Missbilligung rechtswidrigen
vorwerfbaren Fehlverhaltens unterscheidet sich die Wirkung der
Bußgeldbewehrung grundlegend von der Statuierung verwaltungsrechtlicher
Pflichten, die dem Bürger gegenüber auf der Grundlage eines
konkretisierenden Verwaltungsakts und unter Umständen mit den Mitteln
des Verwaltungsvollstreckungsrechts durchgesetzt werden. Was in der
jeweiligen Situation für den Einzelnen verbindlich ist, wird dort durch
Verwaltungsakt - anders als bei einer Ahndung mit einer Geldbuße -
zunächst einzelfallbezogen festgestellt und dem Bürger, Rechtsklarheit
schaffend und mit Rechtsmitteln überprüfbar, vor Augen gehalten, ohne
dass ein Schuldvorwurf im Raum steht. Diese rechtsstaatliche Funktion
des Verwaltungsakts ist gerade in Bezug auf die hier in Rede stehenden
Pflichten bedeutsam, die vom Gesetzgeber teils detailgenau
ausdifferenziert, teils konkretisierungsbedürftig offen ausgestaltet
sind. So besteht für den Veranstalter die Pflicht zur Angabe von Ort,
Zeit, Thema sowie Namen des Veranstalters bei einer Einladung für jede
öffentliche Versammlung ab zwei Personen, unabhängig davon, ob sie klein
oder groß ist, im Freien oder in geschlossenen Räumen stattfindet,
spontan oder geplant abgehalten wird. Auch wenn die erforderlichen
Angaben für sich gesehen einfach sind, kann die Frage, was als Einladung
zu qualifizieren ist, welche Genauigkeit erforderlich ist oder wie die
Angaben bei zeitgemäßen Formen der elektronischen Kommunikation - wie
SMS - zu gewährleisten sind, ernsthaft fraglich sein. Nicht ohne nähere
Kenntnis zu beantworten kann auch die Frage sein, wann Angaben zu den
differenzierten Anzeigepflichten für Versammlungen im Freien
vollständig sind oder wann unverzüglich mitzuteilende Änderungen
rechtzeitig übermittelt werden. Erst recht sind die Pflichten des
Versammlungsleiters zur Verhinderung von Gewalttätigkeiten
konkretisierungsbedürftig. Was "geeignete Maßnahmen" sind, um
"Gewalttätigkeiten" "aus der Versammlung heraus" zu "verhindern", und
wann eine Versammlung mangels Durchsetzungsfähigkeit aufzulösen ist, ist
von schwierigen Bewertungen in oftmals unübersichtlichen Situationen
abhängig. Nichts anderes gilt für die an den einzelnen Teilnehmer
adressierte Pflicht, an Versammlungen nicht in einer Art und Weise
teilzunehmen, die dazu beiträgt, dass die Versammlung ein bestimmtes
Erscheinungsbild mit einschüchternder Wirkung erhält. Mit den
Bußgeldvorschriften verbindet sich so das schwer kalkulierbare Risiko
einer persönlichen Sanktion, die bei den Bürgern zu
Einschüchterungseffekten führen und die Inanspruchnahme des Grundrechts
der Versammlungsfreiheit beeinträchtigen kann.
2. Dagegen scheidet eine vorläufige Außerkraftsetzung der den
Bußgeldvorschriften zugrunde liegenden versammlungsrechtlichen Ge- und
Verbote aus. Eine solche hätte zur Folge, dass es dem Bayerischen
Versammlungsrecht bis zur Entscheidung über die Hauptsache an zentralen
Vorschriften, wie etwa schon generell an einer Anzeigepflicht, fehlte.
Damit wäre eine sichere Wahrnehmung des Versammlungsrechts zumindest
erheblich gefährdet. Das Bundesverfassungsgericht müsste wenigstens
einige der angegriffenen Vorschriften durch eine gerichtliche Anordnung
ersetzen. Das aber kann nur in Sonderkonstellationen gerechtfertigt sein,
die hier nicht gegeben sind. Außerdem werden die Nachteile der
angegriffenen Vorschriften durch die vorläufige Außerkraftsetzung der
Bußgeldvorschriften so weit aufgefangen, dass eine weitergehende
einstweilige Anordnung nicht geboten erscheint.
3. Mit einschränkenden Maßgaben zu versehen ist weiterhin die Anwendung
des Art. 9 Abs. 2 und 4 BayVersG, der Befugnisse der polizeilichen
Beobachtungs- und Dokumentationsmaßnahmen regelt. Die Vorschrift erlaubt
generell "zur Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes" die Anfertigung
von Übersichtsaufnahmen (Kamera-Monitor-Übertragung) und „zur Auswertung
des polizeitaktischen Vorgehens“ die Anfertigung von
Übersichtsaufzeichnungen. In solchen Aufzeichnungen sind nach dem
heutigen Stand der Technik die Einzelpersonen in der Regel
individualisierbar mit erfasst. Der Sache nach ermächtigt Art. 9 Abs. 2
Satz 2 BayVersG damit zu einer anlasslosen Aufzeichnung des gesamten
Versammlungsgeschehens einschließlich der Ablichtung der einzelnen
Versammlungsteilnehmer, die hierzu zurechenbar keinen Anlass gesetzt
haben. Bei jeder Versammlung muss folglich jeder Teilnehmer damit
rechnen, dass seine Teilnahme unabhängig von der Größe und dem
Gefahrenpotential der Versammlung aufgezeichnet wird. Der hierin
liegende Nachteil erhält dadurch weiteres Gewicht, dass die
Übersichtsaufzeichnungen zur Abwehr künftiger versammlungsspezifischer
Gefahren ein Jahr ab Entstehung und zu Zwecken der allgemeinen
Strafverfolgung auch darüber hinaus genutzt und gespeichert werden
können. Eine solche anlasslose Datenbevorratung, die allein an die
Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit und damit an das Gebrauchmachen von
einem für die demokratische Meinungsbildung elementaren Grundrecht
anknüpft, führt zu durchgreifenden Nachteilen. Durch einschränkende
Maßgaben hat der Senat diese Nachteile bis zur Entscheidung in der
Hauptsache begrenzt. Danach sind Übersichtsaufzeichnungen nur zulässig,
wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von der
Versammlung erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder
Ordnung ausgehen und auch die anschließende Nutzung und Speicherung
anlassbezogen begrenzt bleibt.
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