Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass
das Gericht sich vorbehält, grundsätzlich auch nach der Auflösung eines
Bundestages oder dem regulären Ablauf einer Wahlperiode im Rahmen einer
zulässigen Wahlprüfungsbeschwerde die Verfassungswidrigkeit von
Wahlrechtsnormen zu prüfen. Das hierfür erforderliche öffentliche
Interesse an einer Sachentscheidung ist jedoch für
Wahlprüfungsbeschwerden gegen die ordnungsgemäße Zusammensetzung des
15. Deutschen Bundestages insbesondere insoweit entfallen, als die
Verfassungswidrigkeit der Überhangmandate und die Berücksichtigung von
bestimmten Zweitstimmen in zwei Berliner Wahlkreisen gerügt wird.
Der Beschwerdeführer legte im November 2002 Einspruch beim Deutschen
Bundestag gegen die Wahl zum 15. Deutschen Bundestag ein. Der Deutsche
Bundestag wies diesen Wahleinspruch als offensichtlich unbegründet
zurück. Dagegen erhob der Beschwerdeführer Beschwerde zum
Bundesverfassungsgericht. Am 21. Juli 2005 löste der Bundespräsident
den 15. Deutschen Bundestag auf Vorschlag des Bundeskanzlers auf.
Augrund der Wahl vom 18. September 2005 konstituierte sich inzwischen
der 16. Deutsche Bundestag. Der Beschwerdeführer verfolgt seine
Beschwerde weiter.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Das Bundesverfassungsgericht bleibt grundsätzlich auch nach der
Auflösung eines Bundestages oder dem regulären Ablauf einer Wahlperiode
befugt, die im Rahmen einer zulässigen Wahlprüfungsbeschwerde erhobenen
Rügen der Verfassungswidrigkeit von Wahlrechtsnormen und wichtige
wahlrechtliche Zweifelsfragen zu prüfen. Nach Ablauf einer Wahlperiode
kann ein öffentliches Interesse an einer Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsgemäßheit von
Wahlrechtsnormen und die Anwendung des geltenden Wahlrechts bestehen,
soweit ein möglicher Wahlfehler über den Einzelfall hinaus
grundsätzliche Bedeutung hat.
Ein öffentliches Interesse an einer Sachentscheidung nach Ablauf der
Wahlperiode besteht nicht, soweit eine Wahlprüfungsbeschwerde von
Anfang an unzulässig ist oder wenn das Bundesverfassungsgericht bereits
in anderem Zusammenhang die Verfassungsmäßigkeit oder
Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Vorschrift oder vom
Beschwerdeführer aufgeworfene wahlrechtliche Zweifelsfragen geklärt und
der Beschwerdeführer keine Gesichtspunkte vorgetragen hat, die Anlass
zu einer abweichenden Beurteilung geben könnten. Gleiches gilt, wenn
der gerügte Mangel durch Änderung der Vorschrift zwischenzeitlich
behoben wurde oder die Vorschrift in einem engen sachlichen
Zusammenhang mit Normen steht, deren Verfassungswidrigkeit das
Bundesverfassungsgericht bereits festgestellt hat. Ein öffentliches
Sachentscheidungsinteresse kann auch entfallen, wenn der Deutsche
Bundestag einen vom Beschwerdeführer gerügten Verstoß gegen eine
Wahlrechtsnorm bereits im Einspruchsverfahren festgestellt hat.
Das öffentliche Interesse steht einer Beendigung des Verfahrens ohne
Entscheidung zur Sache nicht entgegen, weil die vom Beschwerdeführer
erhobenen Rügen zum Teil schon deshalb unzulässig sind, weil sie den
Begründungsanforderungen nicht genügen. Soweit der Beschwerdeführer die
Altersgrenze für das aktive Wahlrecht als verfassungswidrig rügt, die
Möglichkeit eines Wahlfehlers aufgrund von Zeitungs- und
Magazinbeilagen geltend macht und Meinungsumfragen vor der Wahl als
verfassungswidrig beanstandet, genügt sein pauschales Vorbringen nicht
den Begründungsanforderungen. Auch hat der Beschwerdeführer einen
Wahlfehler aufgrund einer wegen Verstoßes gegen die
Rechenschaftspflicht unzulässig finanzierten Wahlwerbung durch die FDP
nicht hinreichend substantiiert dargelegt.
An der Rüge des Beschwerdeführers, dass die Entstehung von
Überhangmandaten und die Berücksichtigung der Zweitstimmen von Wählern,
die in zwei Berliner Wahlkreisen mit ihrer Erststimme der jeweiligen
Wahlkreiskandidatin der PDS zu einem Mandat verholfen haben, mit ihrer
Zweitstimme jedoch für eine andere Landesliste gestimmt haben (so
genannte Berliner Zweitstimmen), die Gleichheit der Wahl verletzen,
besteht aufgrund der Entscheidung des Senats zum so genannten negativen
Stimmgewicht kein öffentliches Interesse mehr an der Weiterführung des
Wahlprüfungsverfahrens. Das Bundesverfassungsgericht hat dem
Gesetzgeber aufgegeben, den Regelungskomplex, der zum Auftreten des so
genannten negativen Stimmgewichts führen kann, bis spätestens zum 30.
Juni 2011 zu ändern, damit der Deutsche Bundestag in Zukunft aufgrund
eines in Einklang mit der Verfassung stehenden Gesetzes gewählt werden
kann. Im Hinblick darauf, dass der genannte Effekt untrennbar mit den
Überhangmandaten und der Möglichkeit von Listenverbindungen
zusammenhängt, kann eine Neuregelung beim Entstehen der Überhangmandate
oder bei der Verrechnung von Direktmandaten mit den
Zweitstimmenmandaten oder auch bei der Möglichkeit von
Listenverbindungen ansetzen. Die vom Beschwerdeführer aufgeworfene
Frage der Verfassungswidrigkeit von Überhangmandaten wird sich nach
einer Neuregelung nicht mehr in der gleichen Weise stellen. Ob und
inwieweit die Mandatsverteilung im Deutschen Bundestag mit der
Verfassung vereinbar ist, lässt sich nur unter Würdigung des
Zusammenspiels der verschiedenen Wahlrechtsnormen und mit Blick auf das
vom Gesetzgeber gewählte Wahlsystem beurteilen. Gleiches gilt für die
Frage, ob durch das "Splitten" von Erst- und Zweitstimme ein doppelter
Stimmerfolg erzielt werden kann, wenn die für politische Parteien
abgegebenen Zweitstimmen diesen zu Listenplätzen verhelfen, obwohl die
Erststimmen der Wähler schon zur Zuteilung eines Bundestagssitzes
geführt haben, der nicht im Wege des Verhältnisausgleichs verrechnet
werden kann.
Soweit der Beschwerdeführer eine rechtswidrige Datennutzung seitens der
CDU für Wahlkampfzwecke rügt, besteht kein öffentliches
Sachentscheidungsinteresse, weil der Deutsche Bundestag bereits im
Einspruchsverfahren festgestellt hat, dass die Übermittlung der Daten
aller Wahlberechtigten der betreffenden Wahlkreise seitens der Stadt
Köln an die CDU rechtswidrig war. Der nordrhein-westfälische
Landesgesetzgeber hat dies inzwischen auch durch eine Gesetzesänderung
klargestellt. Ob und inwieweit die Übermittlung der Daten aller
Wahlberechtigten in der Vergangenheit einen erheblichen Wahlfehler
begründen konnte, bedarf daher keiner Entscheidung mehr.
Die verbleibenden Rügen des Beschwerdeführers betreffen
Wahlrechtsnormen, deren Verfassungsmäßigkeit das
Bundesverfassungsgericht bereits festgestellt, und wahlrechtliche
Zweifelsfragen, die das Bundesverfassungsgericht schon entschieden hat.
Der Beschwerdeführer hat diesbezüglich keine Gesichtspunkte
vorgetragen, die Anlass zu einer anderweitigen Beurteilung geben
könnten.
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