Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 89/2015
Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, mit der sich ein deutsches Unternehmen gegen die Zustellung einer in den Vereinigten Staaten von Amerika erhobenen Schadensersatzklage wendet. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen einen Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf, das die Zustellung der Klage in Deutschland nach dem Haager Zustellungsübereinkommen von 1965 als rechtskonform bestätigt hat. Das ursprüngliche Begehren der Beschwerdeführerin hat sich erledigt, nachdem die Klage von den amerikanischen Gerichten – im Anschluss an die Entscheidung des U.S. Supreme Court im Fall Kiobel – rechtskräftig abgewiesen worden ist. Mit der Erledigung fehlt es am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis für die Verfassungsbeschwerde. Es liegt keine Fallkonstellation vor, in der ein solches Interesse auch nach Erledigung ausnahmsweise verfassungsrechtlich anzuerkennen wäre.
Sachverhalt und Verfahrensgang:
Die Beschwerdeführerin ist eine Aktiengesellschaft, die international als Automobilzulieferer und Rüstungskonzern tätig ist und unter anderem auch zwei Standorte in den USA unterhält. Im November 2002 wurde sie, neben weiteren multinationalen Konzernen, von einer Gruppe von südafrikanischen Klägern mit einer Sammelklage vor einem Gericht der Vereinigten Staaten von Amerika auf Schadensersatz wegen Beihilfe zu menschenrechtsverletzenden Maßnahmen des Apartheid-Regimes in Südafrika verklagt. Die Kläger stützten sich auf den Alien Tort Claims Act (ATCA), nach dem die Bundesgerichte eine originäre Zuständigkeit für Zivilklagen eines Ausländers über Delikte haben, die unter Verletzung des Völkerrechts oder eines Abkommens der Vereinigten Staaten begangen wurden.
Das angerufene Bundesbezirksgericht ließ die Klage im April 2009 in eingeschränktem Umfang zu, behielt sich aber eine Entscheidung über die (auch internationale) Zuständigkeit und die Frage der ordnungsgemäßen Zustellung ausdrücklich vor. Ein Berufungsgericht setzte das Verfahren bis zur Entscheidung in dem beim U.S. Supreme Court bereits anhängigen Verfahren Kiobel et al. v. Royal Dutch Petroleum Co. et al. aus. Mit Urteil vom 17. April 2013 wies der Supreme Court die Kiobel-Klage mangels Zuständigkeit der US-Bundesgerichte ab. Eine Vermutung spreche gegen die extraterritoriale Anwendung von Gesetzen (presumption against extraterritoriality), es sei denn, der Gesetzgeber hätte eine solche Anwendung ausdrücklich vorgesehen. Selbst wenn der Klageanspruch das Hoheitsgebiet der USA berühre, müsse der Inlandsbezug hinreichend stark sein, um die Vermutung gegen die extraterritoriale Anwendung des ATCA zu widerlegen. Die Klage gegen die Beschwerdeführerin wies das Bundesbezirksgericht daraufhin im Dezember 2013 – inzwischen rechtskräftig – ab.
In Deutschland stellte das Amtsgericht Düsseldorf – auf Verfügung der Präsidentin des Oberlandesgerichts Düsseldorf – die Klage im Juli 2003 zu. Das hiergegen eingelegte Rechtsmittel wies das Oberlandesgericht Düsseldorf mit Beschluss vom 22. Juli 2009 zurück. Dieser Beschluss ist Gegenstand der Verfassungsbeschwerde.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig.
1. Das ursprüngliche Begehren der Beschwerdeführerin hat sich erledigt. Nach der rechtskräftigen Klageabweisung in den Vereinigten Staaten fehlen der Beschwerdeführerin sowohl das Interesse als auch die Möglichkeit, die Unwirksamkeit der Klagezustellung noch geltend zu machen.
2. Mit der Erledigung fehlt es am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis für die Aufrechterhaltung der Verfassungsbeschwerde. Lediglich ausnahmsweise kann in Einzelfällen dennoch ein Rechtsschutzbedürfnis zu bejahen sein. Dafür reicht die allein aus der Kostenentscheidung herrührende Beschwer nicht aus. Vielmehr bejaht das Bundesverfassungsgericht den Fortbestand des Rechtsschutzbedürfnisses nur, wenn der Beschwerdeführer unter dem Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr ein anerkennenswertes Interesse an der Feststellung hat, dass die angegriffene Maßnahme nicht verfassungsgemäß war, wenn ein tiefgreifender und besonders schwerwiegender Grundrechtseingriff vorlag oder wenn anderenfalls die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung unterbliebe und ein schwerwiegender Grundrechtseingriff gerügt wird. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.
a) Ein verfassungsrechtlich anzuerkennendes Interesse der Beschwerdeführerin an der Prüfung, ob der angegriffene Beschluss verfassungsgemäß war, ergibt sich nicht unter dem Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr. Die Annahme der Beschwerdeführerin, sie werde in Zukunft in den Vereinigten Staaten von Amerika erneut gerichtlich in Anspruch genommen werden, ist durch nichts gestützt. Besprechungen der Kiobel-Entscheidung des US Supreme Court gehen übereinstimmend davon aus, dass die Anwendbarkeit des ATCA auf Konstellationen wie die hier vorliegende – Verfahren ausländischer Kläger gegen ausländische Beklagte wegen im Ausland begangener Verstöße gegen das Völkerrecht – künftig nicht mehr in Betracht kommt und entsprechende Klagen vor US-Bundesgerichten deshalb nicht mehr zu erwarten sind.
b) Auch ein tiefgreifender und besonders schwerwiegender Grundrechtseingriff liegt nicht vor. Hierunter fallen vornehmlich solche Eingriffe, die schon das Grundgesetz unter Richtervorbehalt gestellt hat, beispielsweise die Wohnungsdurchsuchung oder die Abschiebehaft. Die – allein finanzielle Interessen der Beschwerdeführerin gefährdende – Zustellung einer Klage ist hiermit nicht vergleichbar.
c) Schließlich ist ein fortbestehendes Rechtsschutzinteresse auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung anzunehmen. Gegen die Verfassungsmäßigkeit des Haager Zustellungsübereinkommens, das mit Gesetz vom 22. Dezember 1977 Eingang in die deutsche Rechtsordnung gefunden hat, bestehen keine Bedenken, soweit es hier entscheidungserheblich ist. Ob die Zustellung einer im Ausland anhängigen Klage selbst dann mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar wäre, wenn das mit der Klage angestrebte Ziel offensichtlich gegen unverzichtbare Grundsätze eines freiheitlichen Rechtsstaats verstieße, bedarf vorliegend keiner grundsätzlichen Klärung. Die Rechtsinstitute und Regelungen, die im amerikanischen Klageverfahren gegen die Beschwerdeführerin zum Tragen kommen, begründen weder für sich genommen noch in Kumulation einen solchen offensichtlichen Verstoß.
Zu diesen Rechtsinstituten hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung teilweise bereits Stellung genommen: So hat es entschieden, dass eine auf Strafschadensersatz nach US-amerikanischem Recht (punitive or exemplary damages) gerichtete Klage nicht von vornherein gegen unverzichtbare rechtsstaatliche Grundsätze verstößt. Dies gilt auch für die von deutscher Seite grundsätzlich zu respektierende rechtspolitische Entscheidung, für deliktisches Handeln mit einer Vielzahl von Geschädigten Sammelklagen (class actions) zuzulassen, an denen sich das einzelne Mitglied der „class“ nicht beteiligen muss, solange auch im class action-Verfahren unabdingbare Verteidigungsrechte gewahrt bleiben. Auch ein Beweis- und Beweisermittlungsverfahren zwischen Klageerhebung und mündlicher Verhandlung (pre-trial discovery) stellt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls nicht ohne Weiteres einen Verstoß gegen unverzichtbare Grundsätze eines freiheitlichen Rechtsstaats dar.
Die Respektierungspflicht könnte ihre Grenze zwar dort erreichen, wo das Verfahren vor den ausländischen Gerichten in einer offenkundig missbräuchlichen Art und Weise genutzt wird. Es sind jedoch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die erhobene Klageforderung – jedenfalls in ihrer Höhe – offensichtlich keine Grundlage hat, dass der Beklagte mit dem angegriffenen Verhalten offensichtlich nichts zu tun hat oder dass erheblicher, auch publizistischer Druck aufgebaut wird, um die Beschwerdeführerin in einen an sich ungerechtfertigten Vergleich zu zwingen. Auch eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Beschwerdeführerin als juristischer Person des Privatrechts erscheint vorliegend nicht von vornherein ausgeschlossen. Nach einer im völkerrechtlichen Schrifttum vertretenen Auffassung gibt es jedenfalls einen Kern menschenrechtlicher Grundpflichten, die auch die einzelne natürliche oder juristische Person des Privatrechts treffen und bei Verstößen sogar völkerrechtliche Sanktionen nach sich ziehen können. Dass ein solcher Verstoß auch eine zivilrechtliche Haftung auslösen kann, scheidet jedenfalls nicht von vornherein so eindeutig aus, dass bereits der Versuch, sie gerichtlich geltend zu machen, als Anhaltspunkt für einen offensichtlichen Rechtsmissbrauch ausreichte.