Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 4/2016
Der Grundrechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht kann sich im Einzelfall auch auf unionsrechtlich determinierte Hoheitsakte erstrecken, wenn dies zur Wahrung der durch Art. 79 Abs. 3 GG verbürgten Verfassungsidentität unabdingbar geboten ist. Dies hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts durch heute veröffentlichten Beschluss mit Blick auf den Schuldgrundsatz entschieden, nach dem jede strafrechtliche Sanktion den Nachweis von Tat und Schuld in einem prozessordnungsgemäßen Verfahren voraussetzt. Der Schuldgrundsatz wurzelt in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG und muss daher auch bei der Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit ergangenen Strafurteils in Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl gewahrt werden. Einen Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf über die Auslieferung eines US-Bürgers nach Italien, der dort in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von 30 Jahren verurteilt worden war, hat der Zweite Senat aufgrund dieser Maßstäbe aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen. Denn das Vorbringen des Beschwerdeführers, dass ihm in Italien keine erneute Beweisaufnahme in seiner Anwesenheit ermöglicht werde, erfordert weitere Ermittlungen des Oberlandesgerichts.
Sachverhalt und Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Vereinigten Staaten von Amerika. Mit rechtskräftigem Urteil der Corte di Appello in Florenz wurde er 1992 in Abwesenheit wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie Einfuhr und Besitzes von Kokain zu einer Freiheitsstrafe von 30 Jahren verurteilt. Im Jahre 2014 wurde er auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls in Deutschland festgenommen. Im Auslieferungsverfahren machte er im Wesentlichen geltend, in dem nach italienischem Recht eröffneten Berufungsverfahren könne er keine erneute Beweisaufnahme erwirken. Das Oberlandesgericht hat die Auslieferung des Beschwerdeführers mit angegriffenem Beschluss vom 7. November 2014 gleichwohl für zulässig erklärt.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 1
Abs. 1 GG.
- a) Hoheitsakte der Europäischen Union und – soweit sie durch das Unionsrecht determiniert werden – Akte der deutschen öffentlichen Gewalt sind mit Blick auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts grundsätzlich nicht am Maßstab der im Grundgesetz verankerten Grundrechte zu messen. Der Anwendungsvorrang reicht jedoch nur soweit, wie das Grundgesetz und das Zustimmungsgesetz die Übertragung von Hoheitsrechten erlauben oder vorsehen. Er wird durch die in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG verfassungsänderungs- und integrationsfest ausgestaltete Verfassungsidentität des Grundgesetzes begrenzt.
- b) Zu deren Sicherstellung dient die Identitätskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht. Die Prüfung kann – wie die Ultra-vires-Kontrolle – im Ergebnis dazu führen, dass Unionsrecht in Deutschland in eng begrenzten Einzelfällen für unanwendbar erklärt werden muss. Um zu verhindern, dass sich deutsche Behörden und Gerichte ohne weiteres über den Geltungsanspruch des Unionsrechts hinwegsetzen, verlangen die europarechtsfreundliche Anwendung von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG und der in Art. 100 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommende Rechtsgedanke, dass die Feststellung einer Verletzung der Verfassungsidentität dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten bleibt.
Die Identitätskontrolle ist der Sache nach in Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV angelegt und verstößt nicht gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit im Sinne von Art. 4 Abs. 3 EUV. Die Europäische Union ist ein Staaten-, Verfassungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsverbund, der seine Grundlagen in völkerrechtlichen Verträgen der Mitgliedstaaten findet. Als Herren der Verträge entscheiden diese durch nationale Geltungsanordnungen darüber, ob und inwieweit das Unionsrecht im jeweiligen Mitgliedstaat Geltung und Vorrang beanspruchen kann. Es bedeutet daher keinen Widerspruch zur Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, wenn das Bundesverfassungsgericht unter eng begrenzten Voraussetzungen eine Maßnahme der Europäischen Union für in Deutschland ausnahmsweise nicht anwendbar erklärt. Dies wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass sich auch im Verfassungsrecht zahlreicher anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union Vorkehrungen zum Schutz der Verfassungsidentität und der Grenzen der Übertragung von Souveränitätsrechten auf die Europäische Union finden. Eine substantielle Gefahr für die einheitliche Anwendung des Unionsrechts ergibt sich daraus nicht, weil die dem Bundesverfassungsgericht vorbehaltenen Kontrollbefugnisse zurückhaltend und europarechtsfreundlich auszuüben sind. Soweit erforderlich, legt es seiner Prüfung dabei die Maßnahme in der Auslegung zugrunde, die ihr in einem Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV durch den Gerichtshof der Europäischen Union gegeben wurde.
- c) Zu den Schutzgütern der Verfassungsidentität, die auch vor Eingriffen der supranational ausgeübten öffentlichen Gewalt geschützt sind, gehören die Grundsätze des Art. 1 GG. Die in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG für integrationsfest erklärten Schutzgüter dulden keine Relativierung. Vor diesem Hintergrund gewährleistet das Bundesverfassungsgericht im Wege der Identitätskontrolle den unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz uneingeschränkt und im Einzelfall.
- d) Die strengen Voraussetzungen für eine Aktivierung der Identitätskontrolle schlagen sich in erhöhten Zulässigkeitsanforderungen an entsprechende Verfassungsbeschwerden nieder. Es muss im Einzelnen substantiiert dargelegt werden, inwieweit im konkreten Fall die Garantie der Menschenwürde verletzt ist.
- Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts überschreitet die durch Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 und Art. 79 Abs. 3 GG gezogenen Grenzen.
- a) Durch den Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl kann Art. 1 Abs. 1 GG verletzt werden, weil bei einer Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit ergangenen Strafurteils eine strafrechtliche Reaktion auf ein sozial-ethisches Fehlverhalten durchgesetzt wird, die ohne Feststellung der individuellen Vorwerfbarkeit mit der Garantie der Menschenwürde und dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar wäre.
- aa) Das Strafrecht beruht auf dem Schuldgrundsatz, der in der Garantie der Menschenwürde sowie im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) verankert ist und zu der wegen Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren Verfassungsidentität gehört. Die Verwirklichung des Schuldgrundsatzes ist gefährdet, wenn die Ermittlung des wahren Sachverhalts nicht sichergestellt ist. Die Zumessung einer angemessenen Strafe, die zugleich einen sozial-ethischen Vorwurf darstellt, setzt die Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit des Angeklagten und damit grundsätzlich dessen Anwesenheit voraus. Der Schuldgrundsatz macht Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten im Strafprozess erforderlich, durch die gewährleistet wird, dass der Beschuldigte Umstände vorbringen und prüfen lassen kann, die zu seiner Entlastung führen oder für die Strafzumessung relevant sein können. Die durch den Schuldgrundsatz gebotenen Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten im Strafprozess sind auch bei der Entscheidung über die Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit ergangenen Strafurteils zu beachten.
- bb) Das über die Auslieferung entscheidende Gericht trifft eine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts, die ebenfalls dem Schutz von Art. 1 Abs. 1 GG unterfällt. Hierzu gehört insbesondere die Behandlung, die der Verfolgte im ersuchenden Staat zu erwarten hat. Dies bedeutet nicht, dass die Grundlagen eines Auslieferungsersuchens von deutschen Gerichten stets umfassend nachvollzogen werden müssten. Denn gerade im europäischen Auslieferungsverkehr gilt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens. Dieses Vertrauen wird jedoch dann erschüttert, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass im Falle einer Auslieferung die unverzichtbaren Anforderungen an den Schutz der Menschenwürde nicht eingehalten würden. Das über die Zulässigkeit der Auslieferung entscheidende Gericht trifft insoweit die Pflicht, Ermittlungen hinsichtlich der Rechtslage und der Praxis im ersuchenden Mitgliedstaat anzustellen, wenn der Betroffene hinreichende Anhaltspunkte für solche Ermittlungen dargelegt hat. Umfang und Ausmaß der Ermittlungen, zu deren Vornahme das Gericht im Hinblick auf die Einhaltung des Schuldprinzips verpflichtet ist, richten sich nach Art und Gewicht der vom Verurteilten vorgetragenen Anhaltspunkte für eine Unterschreitung des durch Art. 1 Abs. 1 GG gebotenen Mindeststandards.
- b) Die Absicherung des integrationsfesten Schuldprinzips rechtfertigt und gebietet eine auf diese verfahrensrechtlichen Mindestgarantien beschränkte Prüfung der Entscheidung des Oberlandesgerichts am Maßstab des Grundgesetzes, obwohl diese unionsrechtlich determiniert ist. Zwar kommt dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl in der deutschen Rechtsordnung grundsätzlich Anwendungsvorrang zu; er enthält nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union in Bezug auf die Auslieferung bei Abwesenheitsurteilen eine abschließende Regelung. Das entbindet das Oberlandesgericht jedoch nicht von der Verpflichtung, auch bei einer Auslieferung auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls die Einhaltung der Grundsätze des Art. 1 Abs. 1 GG in der Ausprägung des Schuldgrundsatzes sicherzustellen.
- c) Im vorliegenden Zusammenhang bedarf es jedoch keiner Begrenzung des Anwendungsvorrangs unter Rückgriff auf Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, weil sowohl der Rahmenbeschluss selbst als auch das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen eine Auslegung gebieten, die den von Art. 1 Abs. 1 GG geforderten Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten bei einer Auslieferung Rechnung trägt.
- aa) Die Pflicht, einem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten, ist schon unionsrechtlich begrenzt. Einem Europäischen Haftbefehl ist nach unionsrechtlichen Maßstäben nicht Folge zu leisten, wenn er den Anforderungen des Rahmenbeschlusses nicht genügt oder die Auslieferung mit einer Verletzung der unionalen Grundrechte einherginge. Art. 4a Abs. 1 Buchstabe d (i) des Rahmenbeschlusses schreibt ein Verfahren vor, bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft und die ursprüngliche Entscheidung aufgehoben werden „kann“. Hiermit wird dem mit der Sache befassten Gericht kein Ermessen eingeräumt; „kann“ dient vielmehr der Kennzeichnung der Befugnisse des Gerichts und bedeutet so viel wie „in der Lage ist“. Auch die Bindung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union an die Grundrechte, die Ausstrahlungswirkung der Grundrechtecharta auf das Sekundärrecht sowie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichthofes für Menschenrechte sprechen für diese Auslegung.
Dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens auch nach Unionsrecht nicht schrankenlos ist, bedeutet zugleich, dass die nationalen Justizbehörden bei entsprechenden Anhaltspunkten berechtigt und verpflichtet sind, die Einhaltung der rechtsstaatlichen Anforderungen zu prüfen, selbst wenn der Europäische Haftbefehl in formaler Hinsicht den Voraussetzungen des Rahmenbeschlusses entspricht. Eine effektive gerichtliche Kontrolle setzt auch aus der Sicht des Unionsrechts voraus, dass das über die Auslieferung entscheidende Gericht in der Lage ist, entsprechende Ermittlungen anzustellen, solange nur die praktische Wirksamkeit des durch den Rahmenbeschluss errichteten Auslieferungssystems nicht in Frage gestellt wird. Damit bleiben die unionsrechtlichen Anforderungen an die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht hinter denjenigen zurück, die Art. 1 Abs. 1 GG als Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten gebietet.
- bb) Das den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl umsetzende Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen begegnet im Hinblick auf den Schuldgrundsatz und seine in der Garantie der Menschenwürde verankerten Gewährleistungsinhalte insoweit keinen Bedenken.
- d) Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts wird diesen Anforderungen nicht in vollem Umfang gerecht.
- aa) Zwar hat das Oberlandesgericht zutreffend gesehen, dass die Auslieferung des Beschwerdeführers nur zulässig ist, wenn ihm nach seiner Überstellung ein effektiver Rechtsbehelf zur Verfügung steht. Es hat jedoch den Umfang der ihm obliegenden Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts und damit Bedeutung und Tragweite von Art. 1 Abs. 1 GG verkannt. Beim Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen müssen die Gerichte im Einzelfall sicherstellen, dass die Rechte des Verfolgten zumindest insoweit gewahrt werden, als sie am Schutz des Art. 1 Abs. 1 GG teilhaben. Mit Blick auf den Schuldgrundsatz gehört dazu, dass dem Verfolgten, der in Abwesenheit verurteilt wurde und nicht über Durchführung und Abschluss des betreffenden Verfahrens unterrichtet war, zumindest die tatsächliche Möglichkeit eröffnet ist, sich nach Kenntniserlangung wirksam zu verteidigen, insbesondere Umstände vorzubringen und prüfen zu lassen, die zu seiner Entlastung führen können.
- bb) Der Beschwerdeführer hat substantiiert dargelegt, dass ihm das italienische Prozessrecht nicht die Möglichkeit eröffne, eine erneute Beweisaufnahme im Berufungsverfahren zu erwirken. Dieses Vorbringen wird dadurch erhärtet, dass in der Vergangenheit mehrere Oberlandesgerichte die Auslieferung nach Italien aufgrund einer Abwesenheitsverurteilung mit der Begründung abgelehnt haben, dass nach italienischem Recht in der Berufungsinstanz eine erneute umfassende gerichtliche Überprüfung der Sachentscheidung nicht stattfinde. Den substantiierten und plausiblen Einwänden des Beschwerdeführers hätte das Oberlandesgericht nachgehen müssen. Es hat sich jedoch damit zufrieden gegeben, dass eine erneute Beweisaufnahme in Italien „jedenfalls nicht ausgeschlossen“ sei. Dies verletzt die Rechte des Beschwerdeführers aus Art. 1 Abs. 1 GG.
- Einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV bedarf es nicht. Die richtige Anwendung des Unionsrechts ist derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt. Darüber hinaus gerät das Unionsrecht mit dem Menschenwürdeschutz des Grundgesetzes im vorliegenden Fall nicht in Konflikt.