Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 33/2016
Das Gewicht einer religiösen Verhaltensvorgabe ist eine genuin religiöse Frage, die der selbständigen Beurteilung durch die staatlichen Gerichte entzogen ist. Dies hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss bekräftigt und ein Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg aufgehoben, mit dem einer Glaubensgemeinschaft die Einrichtung einer Begräbnisstätte für Gemeindepriester in ihrer Kirche versagt worden war. Bei der Anwendung der Ausnahme- und Befreiungsvorschriften des Baugesetzbuchs und der Auslegung der darin enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) nicht hinreichend berücksichtigt. Insbesondere kann der von der Beschwerdeführerin angeführten Glaubensregel der zwingende Charakter nicht ohne Inanspruchnahme sachverständiger Hilfe abgesprochen werden.
Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin ist eine vereinsrechtlich organisierte Glaubensgemeinschaft und gehört der Erzdiözese der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien in Deutschland an. Im Jahr 1994 errichtete sie auf einem Grundstück in einem Industriegebiet ein Kirchengebäude. Im Jahr 2005 beantragte die Beschwerdeführerin die Genehmigung zur Umnutzung eines Lagerraums im Untergeschoss des Kirchengebäudes in eine Krypta mit zehn Begräbnisplätzen, was von den zuständigen Behörden abgelehnt wurde.
Das verwaltungsgerichtliche Verfahren gegen die Versagung der Genehmigung blieb ohne Erfolg. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin im Wesentlichen eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Die Beschwerdeführerin ist in ihrem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verletzt. Im Ausgangsverfahren wurden die Schutzbereiche der widerstreitenden Grundrechte teilweise unrichtig bestimmt und ihrem Gewicht nach im Rahmen der Abwägung nicht hinreichend in Einklang gebracht.
- Der einer Religionsgemeinschaft zukommende Grundrechtsschutz umfasst das Recht zu eigener weltanschaulicher oder religiöser Betätigung, zur Verkündigung des Glaubens sowie zur Pflege und Förderung des Bekenntnisses. Für die Eröffnung des Schutzbereichs der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit kommt es nicht darauf an, welche konkrete Bedeutung dem in Rede stehenden Verhalten nach den Glaubenslehren beigemessen wird. Denn das Recht, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln, betrifft nicht nur imperative Glaubenssätze, sondern auch solche religiösen Überzeugungen, die ein Verhalten als das zur Bewältigung einer Lebenslage richtige bestimmen. Ausgehend hiervon zählen auch die Bestattung kirchlicher Würdenträger nach bestimmten glaubensgeleiteten Riten und die dementsprechende Totensorge zu den geschützten Betätigungen.
- Der in der Versagung der Einrichtung einer Krypta liegende Eingriff erweist sich verfassungsrechtlich als nicht gerechtfertigt. Die Glaubensfreiheit ist nicht schrankenlos gewährleistet. Einschränkungen müssen sich jedoch aus der Verfassung selbst ergeben. Hierzu zählen die Grundrechte Dritter sowie Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang.
- a) Der postmortale Achtungsanspruch scheidet als verfassungsimmanente Schranke der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Beschwerdeführerin aus. Denn bei der Beantwortung der Frage, ob eine Beeinträchtigung vorliegt, ist dem – gegebenenfalls auch nur mutmaßlichen – Willen des Verstorbenen hinlängliches Gewicht beizumessen. Dessen personale Würde kann seinem freiwilligen und eigenverantwortlichen Handeln – jedenfalls außerhalb des Kernbereichs – nicht entgegengehalten werden, weil andernfalls die Menschenwürdegarantie zu einer staatlichen Eingriffsermächtigung verkehrt würde. Aufgrund der konkreten Umstände wird hier anzunehmen sein, dass Geistliche im Dienste der Beschwerdeführerin ihre personale Würde gerade im untrennbaren Zusammenhang mit den ihrem Glauben zugrunde liegenden Regeln sehen.
- b) Auch die Totenruhe kommt als verfassungsimmanente Schranke hier nicht in Betracht. Denn sie ist subjektiven Bestimmungskategorien gegenüber gleichermaßen offen wie der postmortale Achtungsanspruch. Folglich können Maßnahmen die Totenruhe dann nicht verletzen, wenn mit ihnen die Würde des Verstorbenen gewahrt und seinem mutmaßlichen Willen Rechnung getragen wird.
- c) Ebenso wenig steht der Verwirklichung der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Beschwerdeführerin das Pietätsempfinden der Hinterbliebenen oder der Allgemeinheit im Wege. Soweit infolge industriegebietstypischer Immissionen ein würdiges Totengedenken der Hinterbliebenen vereitelt zu werden droht, muss bei einem freiheitlich orientierten Verständnis Raum für eine individuelle Definition würdigen Totengedenkens bleiben. Der Staat hat sich demzufolge jedenfalls in Grenzfällen bei der Frage Zurückhaltung aufzuerlegen, welche Form von Totengedenken noch pietätvoll ist und welche nicht mehr.
- d) Grundsätzlich kollisionsfähig mit der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Beschwerdeführerin ist demgegenüber das Eigentumsgrundrecht (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG) ebenso wie die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) der Grundstücksnachbarn.
Das Eigentumsgrundrecht umfasst auch das Recht, die benachbarten Produktionsanlagen umfassend zu nutzen. Auf den Fortbestand dieses Freiraums eigenverantwortlicher Lebensgestaltung im privaten und wirtschaftlichen Bereich kann der Eigentümer auch vertrauen. Eine Begrenzung der Nutzung des Grundeigentums – etwa durch von der Beschwerdeführerin initiierte oder eingeforderte Auflagen – wäre als rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in das Eigentum zu qualifizieren.
Als Betätigungsgrenzen würden etwa zu besorgende Auflagen, die den Betriebsinhabern aufgeben, ihre Maschinen nur unter bestimmten Lärmschutzvorkehrungen oder gar nur zu bestimmten Zeiten zu betreiben, auch unmittelbar in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsausübungsfreiheit eingreifen.
- Der danach verbleibende Grundrechtskonflikt zwischen der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Beschwerdeführerin einerseits und dem Grundrecht auf Eigentum sowie der Berufsausübungsfreiheit der angrenzenden Betriebsinhaber andererseits ist unter Abwägung aller Umstände nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz aufzulösen. Das erfordert, dass nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet wird, sondern alle einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren.
- a) Diesen Anforderungen wird der Verwaltungsgerichtshof in seiner Entscheidung nicht gerecht. Er hat der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Beschwerdeführerin nicht hinreichend Rechnung getragen. So fehlt es an Feststellungen dazu, wie die bestehende Kirche gegenwärtig im Einzelnen genutzt wird, an welchen Tagen in den umliegenden Industriebetrieben gearbeitet wird und wie sich im Hinblick darauf gerade durch die Zulassung der Krypta im Einzelnen eine zusätzliche Belastung ergeben könnte. Den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs lässt sich auch nicht entnehmen, inwieweit die gewöhnliche Nutzung der geplanten Krypta – wenn überhaupt – über den reinen Gottesdienstbetrieb hinaus einen Nutzungskonflikt nennenswerten Ausmaßes begründen könnte.
Der Verwaltungsgerichtshof wird dem Gewährleistungsgehalt des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG auch nicht gerecht, soweit er annimmt, die Glaubensregeln der Beschwerdeführerin stellten zwar einen anerkennungsfähigen Belang des Wohls der Allgemeinheit dar, geböten aber vernünftigerweise nicht die Genehmigung der Einrichtung der Krypta. Er überschreitet damit die Grenzen der – verfassungsrechtlich im Grundsatz zulässigen – gerichtlichen Plausibilitätsprüfung, wenn er der Beschwerdeführerin einen – für sie – zwingenden Charakter des Gebots einer „Hauskirchenbestattung“ für Priester abspricht. Bei der Frage, welchen Grad an Bedeutung eine Glaubensgemeinschaft einer Glaubensregel zumisst, handelt es sich zunächst um eine genuin religiöse, die als solche der selbständigen Beurteilung durch die staatlichen Gerichte entzogen ist. Zum Beleg der Existenz einer zwingenden Glaubensregel genügt die substantiierte und nachvollziehbare Darlegung, dass die in Rede stehende Verhaltensweise nach gemeinsamer Glaubensüberzeugung als verpflichtend empfunden wird. Dabei ist Bezugspunkt nicht notwendigerweise die jeweilige Religion im Ganzen. Ist für die betreffende Glaubensgruppe das Bestehen verpflichtender Vorgaben dargelegt, hat sich der Staat, der ein solches religiöses Selbstverständnis nicht unberücksichtigt lassen darf, einer Bewertung dieser Glaubenserkenntnis zu enthalten. Nach diesen Maßstäben ist es nicht zulässig, der Beschwerdeführerin den zwingenden Charakter der angeführten Glaubensregel der „Hauskirchenbestattung“ für Priester ohne Inanspruchnahme sachverständiger Hilfe abzusprechen.
- b) Schließlich misst der Verwaltungsgerichtshof den nachbarlichen Interessen ein überwiegendes Gewicht bei, ohne sich mit den in Betracht kommenden Möglichkeiten zur Herstellung praktischer Konkordanz zureichend auseinander zu setzen. Nicht ersichtlich ist bereits, worin konkret der graduelle Unterschied im Ausmaß der nachbarlichen Rücksichtnahmepflichten zwischen einer Kirche mit und ohne Krypta liegen soll. Soweit er nur geplante künftige Betriebserweiterungen anführt, dürfte es zudem an der hinreichend konkreten Verfestigung einer eigentumsrechtlichen Position fehlen. Des Weiteren bezieht der Verwaltungsgerichtshof eigene Abhilfemöglichkeiten der Beschwerdeführerin nicht in die Betrachtung mit ein.