Erfolglose Verfassungsbeschwerden in Altanschließerfällen in Mecklenburg-Vorpommern

Erfolglose Verfassungsbeschwerden in Altanschließerfällen in Mecklenburg-Vorpommern

Erfolglose Verfassungsbeschwerden in Altanschließerfällen in Mecklenburg-Vorpommern

Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 72/2020

Beschluss vom 29. Juni 2020
1 BvR 1866/15, 1 BvR 1869/15, 1 BvR 1868/15

Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit heute veröffentlichtem Beschluss drei Verfassungsbeschwerden in sogenannten Altanschließerfällen in Mecklenburg-Vorpommern nicht zur Entscheidung angenommen, in denen es um Schmutzwasseranschlussbeiträge für nach der Wiedervereinigung getätigte Investitionsmaßnahmen einer bereits vor der Wiedervereinigung errichteten Abwasserentsorgungseinrichtung ging (sogenannte Nachwendeinvestitionen).

Sachverhalt:

Die Beschwerdeführer sind Eigentümer von Grundstücken in Mecklenburg-Vorpommern, die bereits vor der Wiedervereinigung über einen Anschluss an eine Abwasserentsorgungseinrichtung verfügten. Im Jahr 2005 wurden die Beschwerdeführer für nach der Wiedervereinigung getätigte Investitionsmaßnahmen zur Zahlung von Schmutzwasseranschlussbeiträgen herangezogen. Die dagegen erhobenen Klagen blieben vor den Verwaltungsgerichten in allen Instanzen bis hin zum Bundesverwaltungsgericht erfolglos.

Die Beschwerdeführer rügen im Verfassungsbeschwerdeverfahren im Wesentlichen eine Verletzung des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG), weil die den Entscheidungen zugrunde liegenden Vorschriften des Kommunalabgabengesetzes für das Land Mecklenburg-Vorpommern – KAG M-V -, insbesondere § 9 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 KAG M-V a. F., eine zeitlich unbegrenzte Inanspruchnahme der Beitragsschuldner nach der Erlangung des für die Beitragspflicht maßgeblichen Vorteils ermöglichten.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

1. Die Beschwerdeführer werden nicht in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG in seiner Ausprägung als Gebot der Belastungsklarheit und
-vorhersehbarkeit verletzt.

§ 9 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 KAG M-V a. F. ermöglichte zwar bei unterbliebenem oder fehlerhaftem Erlass einer Beitragssatzung eine zeitlich unbegrenzte Festsetzung von Beiträgen. Auch § 12 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 KAG M-V a. F. normierte keine zeitliche Höchstgrenze der Inanspruchnahme, sondern verlängerte lediglich die Festsetzungsverjährungsfrist im Sinne einer Mindestfrist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hatten Betroffene wegen der in § 12 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 KAG M-V a. F. enthaltenen Frist jedoch die Gewissheit, jedenfalls bis zum Ablauf des 31. Dezember 2008 mit der Heranziehung zu Anschlussbeiträgen rechnen zu müssen, so dass sich der Verstoß nicht auf Bescheide auswirkte, die – wie hier – zuvor erlassen wurden. Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen auch nicht deshalb, weil § 12 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 KAG M-V a. F. die Erhebung von Anschlussbeiträgen für eine 18-jährige Zeitspanne ermöglichte, da diese sich im Rahmen des weiten gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums hält, der dem Gesetzgeber im Bereich der Beitragserhebung zum Ausgleich von Vorteilen zukommt.

Gegen die Annahme der Gerichte, die Erhebung von Schmutzwasseranschlussbeiträgen in Altanschließungsfällen sei rechtmäßig, ist jedenfalls dann verfassungsrechtlich nichts zu erinnern, wenn die Beitragsbescheide nur solche Aufwendungen zum Gegenstand haben, die nach der Wiedervereinigung entstanden sind.

2. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Gebot der Belastungsgleichheit liegt gleichfalls nicht vor.

Nichtsteuerliche Abgaben, die den Einzelnen zu einer Finanzleistung heranziehen, bedürfen einer über den Zweck der Einnahmeerzielung hinausgehenden besonderen sachlichen Rechtfertigung. Werden Beiträge erhoben, verlangt Art. 3 Abs. 1 GG, dass die Differenzierung zwischen Beitragspflichtigen und nicht Beitragspflichtigen nach Maßgabe des Vorteils vorgenommen wird, dessen Nutzungsmöglichkeit mit dem Beitrag abgegolten werden soll. Die Erhebung von Beiträgen erfordert demnach hinreichende sachliche Gründe.

Ein solcher sachlicher Grund für die Heranziehung der Beschwerdeführer zu Anschlussbeiträgen liegt in dem wirtschaftlichen Vorteil, der den Grundstücken der Beschwerdeführer durch die Nachwendeinvestitionen im gleichen Maß wie den Neuanschließern vermittelt wird. Es würde einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG darstellen, wenn im Hinblick auf diese Investitionen nur die Neuanschließer für denselben Vorteil zu Beiträgen herangezogen würden, nicht jedoch die Beschwerdeführer als Altanschließer.