Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 115/2017
Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 3. Kammer des Zweiten Senats eine Verfassungsbeschwerde gegen die Ablehnung des Aufschubs der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe nicht zur Entscheidung angenommen. Der wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 rechtlich zusammentreffenden Fällen rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilte, 96-jährige Beschwerdeführer macht vornehmlich geltend, sein Gesundheitszustand sei in den angegriffenen Entscheidungen nur unzureichend berücksichtigt worden, und rügt die Verletzung seines Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG).
Sachverhalt:
Der im Jahr 1921 geborene Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Landgerichts Lüneburg wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 rechtlich zusammentreffenden Fällen rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Seinen Antrag auf Aufschub der Strafvollstreckung wegen erheblicher gesundheitlicher Einschränkungen (§ 455 Abs. 3 StPO) lehnte die Staatsanwaltschaft nach Einholung einer amtsärztlichen Stellungnahme und eines ergänzenden psychiatrischen Gutachtens ab. Den hiergegen gerichteten Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 458 Abs. 2 StPO) wies das Landgericht zurück; die zum Oberlandesgericht erhobene sofortige Beschwerde blieb ebenfalls erfolglos. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG).
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
- Die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen, gebietet grundsätzlich die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs. Allerdings entsteht bei drohenden Gesundheitsgefährdungen für den Verurteilten zwischen der Pflicht zur Durchsetzung des Strafanspruchs und dem Grundrecht des Verurteilten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ein Spannungsverhältnis, dem nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durch Abwägung der widerstreitenden Interessen Rechnung zu tragen ist. Demgemäß ist der Vollzug der Strafe zwar auch in hohem Lebensalter nicht ausgeschlossen. Allerdings gebietet ein menschenwürdiger Vollzug der Strafe, dass auch der mit besonders schwerer Tatschuld beladene Verurteilte, die grundsätzlich realisierbare Chance haben muss, die Freiheit wiederzuerlangen. Sofern dem Verurteilten eine nahe Lebensgefahr oder schwere Gesundheitsgefahren drohen, scheidet der Vollzug aus. Stehen hingegen ausreichende Mittel zur medizinischen Betreuung und zur Abwehr vorhandener Gesundheitsgefahren zur Verfügung, bedarf es eines Zurücktretens des staatlichen Strafanspruchs nicht. Unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens ist dabei, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht.
- Diesen Maßstäben tragen die angegriffenen Entscheidungen Rechnung.
- a) Die zugrunde gelegten ärztlichen Stellungnahmen und Gutachten versetzten Staatsanwaltschaft und Fachgerichte ohne Weiteres in die Lage, den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers einzuordnen und davon ausgehend eine Abwägung zwischen der Pflicht des Staates zur Durchsetzung des Strafanspruchs und den Grundrechten des Beschwerdeführers vorzunehmen. Es ist nicht erkennbar, dass die angegriffenen Entscheidungen auf einer unzureichenden Sachaufklärung beruhen.
- b) Darüber hinaus lässt die in den angegriffenen Entscheidungen durchgeführte Abwägung des öffentlichen Interesses an der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs mit den Grundrechten des Beschwerdeführers eine Verkennung von Bedeutung und Tragweite der Grundrechte des Beschwerdeführers nicht erkennen. Verfassungsrechtlich unbedenklich wird davon ausgegangen, dass das hohe Lebensalter des Beschwerdeführers für sich genommen nicht ausreichend ist, um von der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs abzusehen. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass der Beschwerdeführer wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 rechtlich zusammentreffenden Fällen schuldig gesprochen worden ist, was der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs ein besonderes Gewicht verleiht.
Nach den Feststellungen der Fachgerichte kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass ein Vollzug der Freiheitsstrafe aus anderen Gründen unverhältnismäßig ist. Es ist aufgrund der Ausführungen der Sachverständigen zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers ‑ zumal unter Berücksichtigung der gesetzlichen Möglichkeiten einer teilweisen Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ‑ nicht erkennbar, dass bei einem Vollzug der vierjährigen Freiheitsstrafe die Chance des Beschwerdeführers, der Freiheit wieder teilhaftig zu werden, von vornherein entfällt oder sich auf einen von Siechtum und Todesnähe gekennzeichneten Lebensrest reduziert. Die Einschätzung der Staatsanwaltschaft und der Fachgerichte, der Verhältnismäßigkeit des Vollzugs der Freiheitsstrafe stünden schwere Gesundheitsgefahren oder eine nahe Lebensgefahr des Beschwerdeführers nicht entgegen, ist verfassungsrechtlich ebenfalls nicht zu beanstanden. Vielmehr kann den bestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch entsprechende medizinische Vorkehrungen Rechnung getragen werden. Sollten sich im Laufe des Vollzugs erhebliche nachteilige Veränderungen des Gesundheitszustands des Beschwerdeführers ergeben, kann dem im Wege der Vollzugsunterbrechung (§ 455 Abs. 4 StPO) Rechnung getragen werden.
Es ist schließlich verfassungsrechtlich unbedenklich, dass die Staatsanwaltschaft und die Fachgerichte auch angesichts der bestehenden psychischen Beeinträchtigungen des Beschwerdeführers keine durch den Vollzug drohende nahe Lebensgefahr oder schwere Gesundheitsgefahr festgestellt haben. Das Oberlandesgericht hat sich mit den sachverständigen Beurteilungen eingehend auseinandergesetzt und im Ergebnis eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine haftbedingte Lebensgefährdung beziehungsweise naheliegende Gefahr des Todes verneint. Diese Bewertung ist, auch wenn die Umstände im Strafvollzug anders sind als das bisherige soziale Netz des Beschwerdeführers, von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.