Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 58/2019
Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat einen Antrag der AfD-Bundestagsfraktion auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Der Antrag war darauf gerichtet, dem Bundespräsidenten bis auf Weiteres zu untersagen, drei durch den Bundestag beschlossene Gesetze gegenzuzeichnen, auszufertigen und im Bundesgesetzblatt zu verkünden. Bei der Abstimmung über die entsprechenden Anträge gegen 1.27 Uhr morgens hatte die Antragstellerin die fehlende Beschlussfähigkeit des Bundestages gerügt. Die Vizepräsidentin des Bundestages hatte diese Rüge für den Sitzungsvorstand zurückgewiesen. Die Antragstellerin ist der Auffassung, dass die Beschlussunfähigkeit objektiv festgestanden habe und daher nicht durch eine einmütige Bejahung seitens des Sitzungsvorstands habe überwunden werden können. Die durch den Senat vorzunehmende Folgenabwägung führt indes zu dem Ergebnis, dass eine einstweilige Anordnung nicht zu erlassen war. Zur Begründung hat der Senat insbesondere angeführt, dass der Antragstellerin kein schwerer Nachteil drohte, falls die einstweilige Anordnung nicht erginge, ein späteres Organstreitverfahren der Antragstellerin hingegen Erfolg hätte. Dass verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz grundsätzlich nachgelagerter Rechtsschutz ist, trägt der ausdrücklichen Kompetenzverteilung des Grundgesetzes Rechnung, wonach das Bundesverfassungsgericht die Kompetenz des Bundespräsidenten zur Prüfung eines Gesetzes zu respektieren hat.
Sachverhalt:
Die Feststellung der Beschlussfähigkeit des Deutschen Bundestages ist in den Vorschriften der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages geregelt. Danach ist der Bundestag beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist. Wird vor Beginn einer Abstimmung die Beschlussfähigkeit von einer Fraktion oder von anwesenden fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages bezweifelt und auch vom Sitzungsvorstand nicht einmütig bejaht, so sind die Stimmen zu zählen. Die 107. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages dauerte vom 27. Juni bis in die frühen Morgenstunden des 28. Juni 2019. Als Tagesordnungspunkte 22a und 22b rief die Vizepräsidentin des Bundestages zwei Gesetzentwürfe zur Beratung auf. Bevor die Abgeordneten mit den Abstimmungen über die Gesetzentwürfe begannen, bezweifelte am 28. Juni 2019 gegen 1.27 Uhr ein Abgeordneter der AfD-Fraktion die Beschlussfähigkeit der Versammlung, woraufhin die Vizepräsidentin für den Sitzungsvorstand erwiderte, dass nach dessen Meinung die Beschlussfähigkeit gegeben sei. Schließlich wurden zunächst die beiden Gesetzentwürfe sowie später noch ein dritter Entwurf zur Abstimmung gestellt. Alle erhielten die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Noch im Laufe des 28. Juni 2019 befasste sich der Ältestenrat auf Antrag der Antragstellerin mit der Entscheidung des Sitzungsvorstands, keine Zählung durchzuführen. Der Präsident des Deutschen Bundestages erklärte daraufhin in einer Pressemitteilung, das Präsidium des Bundestages sei einhellig der Auffassung, dass der Sitzungsvorstand die Vorschriften der Geschäftsordnung über die Feststellung der Beschlussfähigkeit korrekt angewendet habe.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
- Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall – auch schon vor Anhängigkeit eines Verfahrens zur Hauptsache – einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung im Organstreitverfahren bedeutet einen erheblichen Eingriff des Bundesverfassungsgerichts in Autonomie und originäre Zuständigkeit anderer Verfassungsorgane. Bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ist daher grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen. Der Erlass kann allein der vorläufigen Sicherung des strittigen organschaftlichen Rechts der Antragsteller dienen, damit es nicht im Zeitraum bis zur Entscheidung der Hauptsache durch Schaffung vollendeter Tatsachen überspielt wird. Bei der Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache begehrte Feststellung oder der in der Hauptsache gestellte Antrag erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn einerseits eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag in der Hauptsache aber Erfolg hätte, und andererseits die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Antrag in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre. Die nach diesen Maßstäben im Rahmen der Entscheidung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG vorzunehmende Folgenabwägung des Bundesverfassungsgerichts führt zu dem Ergebnis, dass eine einstweilige Anordnung nicht zu erlassen ist.
- Zunächst kann dahinstehen, dass sich aus der bisherigen Begründung des Antrags schon nicht in einer den Anforderungen des § 23 Abs. 1 BVerfGG genügenden Weise ergibt, welche organschaftliche Rechtsposition die Antragstellerin in einem etwaigen Organstreitverfahren gegen welchen Antragsgegner geltend zu machen gedenkt.
- Erginge die einstweilige Anordnung nicht und hätte ein Organstreitverfahren später Erfolg, drohte der Antragstellerin kein schwerer Nachteil. Soweit die Antragstellerin für diesen Fall den Eintritt einer Art „verfassungsrechtlichen Notstands“ befürchtet, überzeugt dies nicht. Was sie damit in der Sache rügt, ist das Auseinanderfallen der möglichen Rechtsfolgen von Organstreitverfahren einerseits und Normenkontrollverfahren andererseits. Nach § 67 BVerfGG stellt das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung über einen Organstreit nur fest, ob die beanstandete Maßnahme gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstößt; Rechtsfolge der abstrakten Normenkontrolle kann hingegen nach § 78 BVerfGG die Nichtigkeitserklärung eines Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht sein. Eine Rechtsschutzlücke für mögliche Antragsteller des Organstreits folgt hieraus jedoch nicht, sondern dies ist Ausdruck der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung in Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 und 2 GG, dem objektiven Normenbeanstandungsverfahren mit dem Organstreit ein kontradiktorisches Streitverfahren ausschließlich zur Klärung eines bestimmten Verfassungsrechtsverhältnisses zur Seite zu stellen. Für eine sich von diesem gesetzlich gezogenen Rahmen lösende Ausdehnung der Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts ist kein Raum. Unabhängig davon wäre es kein schwerer Nachteil für die Antragstellerin, dass im Falle eines späteren Erfolgs des Organstreits in der Hauptsache zunächst formell verfassungswidrige Gesetze in Kraft blieben. Denn das Grundgesetz kennt grundsätzlich keine präventive Normenkontrolle, die einen solchen Zustand verhindern würde. Dass verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz grundsätzlich nachgelagerter, kassatorischer Rechtsschutz ist, ist nicht nur aus grundlegenden Erwägungen demokratischer Gewaltenteilung gerechtfertigt, sondern trägt vor allem der ausdrücklichen Kompetenzverteilung des Grundgesetzes Rechnung, wonach das Bundesverfassungsgericht die dem Bundespräsidenten vor der Ausfertigung obliegende Kompetenz zur Prüfung eines Gesetzes zu respektieren hat.
- Das Argument der Antragstellerin, nur durch den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung könnten die fraglichen Gesetze in einem ordnungsgemäßen Verfahren durch einen beschlussfähigen Bundestag abermals verabschiedet werden, vermag ebenfalls nicht zu überzeugen. Der Bundestag kann zu jedem Zeitpunkt erneut über die seitens der Antragstellerin bemängelten Gesetze abstimmen, und zwar unabhängig sowohl von einem Erlass der einstweiligen Anordnung als auch von einer Feststellung der Verletzung organschaftlicher Rechte der Antragstellerin in einem späteren Organstreitverfahren.