Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 47/2019
Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Zweiten Senats die Verfassungsbeschwerde alternativ wegen (gewerbsmäßig begangenen) Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei Verurteilter nicht zur Entscheidung angenommen.
Sachverhalt:
Das Landgericht Meiningen verurteilte die Beschwerdeführer alternativ wegen (gewerbsmäßig begangenen) Diebstahls (§ 242 Abs. 1 StGB) oder gewerbsmäßiger Hehlerei (§ 259 Abs. 1, § 260 Abs. 1 Nr. 1 StGB) in 19 beziehungsweise 15 Fällen zu Freiheitsstrafen. Nach den Urteilsfeststellungen stahlen oder hehlten die Beschwerdeführer in erheblichem Umfang unter anderem Fahrzeuge und Fahrzeugteile. Bei einer Durchsuchung der Räumlichkeiten der Beschwerdeführer wurden zahlreiche solcher Gegenstände sichergestellt, die in dem für die Einzeltaten näher konkretisierten Tatzeitraum gestohlen worden waren. Ob die Beschwerdeführer die Gegenstände aus – gemeinschaftlich begangenen – Diebstählen (selbst) erlangt oder später als Hehler erworben hatten, vermochte das Landgericht nicht zweifelsfrei zu klären und gelangte – entsprechend den von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen zur echten Wahlfeststellung – zu einer gesetzesalternativen Verurteilung.
Die Beschwerdeführer greifen mit ihrer Verfassungsbeschwerde das Urteil des Landgerichts sowie das ihre Revisionen verwerfende Urteil des Bundesgerichthofs an. Sie machen im Wesentlichen geltend, dass die echte Wahlfeststellung gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoße, weil die Verurteilung in der Wahlfeststellungssituation nicht auf einer gesetzlichen, sondern auf einer dritten, ungeschriebenen Norm beruhe. Des Weiteren verletze die gesetzesalternative Verurteilung die Unschuldsvermutung.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Die Verfassungsbeschwerde ist jedenfalls nicht begründet.
- Die Wahlfeststellung zwischen (gewerbsmäßig begangenem) Diebstahl und gewerbsmäßiger Hehlerei verletzt nicht das Bestimmtheitsgebot.
- a) Das Rechtsinstitut der ungleichartigen Wahlfeststellung kommt in einer bestimmten prozessualen Lage zur Anwendung und legt fest, welche Rechtsfolgen die nach abgeschlossener Beweiswürdigung verbleibenden Zweifel über materiell-rechtlich erhebliche Tatsachen haben, wenn die Feststellung einer bestimmten Tat nicht möglich ist, aber sicher feststeht, dass sich der Angeklagte nach einem gesetzlichen Tatbestand strafbar gemacht hat. Die von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze bestimmen in dieser besonderen Beweissituation die Voraussetzungen, unter denen das Tatgericht trotz subsumtionsrelevanter Tatsachenzweifel eine Verurteilung auszusprechen hat. Die Regeln zur Wahlfeststellung dienen nicht dazu, materiell-rechtliche Strafbarkeitslücken zu schließen, was allein Aufgabe des Gesetzgebers ist; sie ermöglichen ausschließlich die Bewältigung verfahrensrechtlicher Erkenntnislücken. Die ungleichartige Wahlfeststellung ist eine besondere, dem Strafverfahrensrecht zuzuordnende Entscheidungsregel, die nicht den Schutzbereich des Art. 103 Abs. 2 GG berührt.
In der Wahlfeststellungssituation kommt auch keine außergesetzliche Norm zur Anwendung. Der Angeklagte wird ausschließlich wegen der Verletzung alternativ in Betracht kommender – gesetzlich bestimmter – Einzelstraftatbestände (wahldeutig) verurteilt.
- b) Die ungleichartige Wahlfeststellung verletzt nicht den von Art. 103 Abs. 2 GG erfassten Grundsatz „nulla poena sine lege“, der das Gebot der Gesetzesbestimmtheit auch auf die Strafandrohung erstreckt. Das Tatgericht entnimmt Art und Maß der Bestrafung einem gesetzlich normierten Straftatbestand, genauer dem Gesetz, das für den konkreten Fall die mildeste Bestrafung zulässt.
Da bei einer wahldeutigen Verurteilung in allen Punkten die dem Angeklagten günstigste der alternativen Tatgestaltungen zugrunde zu legen ist, ist auch die Verhängung einer den Schuldgrundsatz verletzenden, weil die tatsächliche Schuld übersteigenden, Strafe ausgeschlossen.
- Die gesetzesalternative Verurteilung wegen (gewerbsmäßig begangenen) Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei entsprechend den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen trägt der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Unschuldsvermutung hinreichend Rechnung.
Zwar kann dem Angeklagten in den Fällen der ungleichartigen Wahlfeststellung eine konkrete, schuldhaft begangene Straftat nicht nachgewiesen, insoweit ein eindeutiger Tat- und Schuldnachweis nicht geführt werden. Andererseits steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Angeklagte sicher einen von mehreren alternativ in Betracht kommenden Straftatbeständen schuldhaft verwirklicht hat. Zweifelhaft ist nicht, ob sich der Angeklagte nach einem bestimmten Tatbestand strafbar gemacht hat, sondern aufgrund der begrenzten Erkenntnismöglichkeiten des Gerichts, welches Strafgesetz verletzt ist.
Jedenfalls dann, wenn diese Straftatbestände einen vergleichbaren Unrechts- und Schuldgehalt besitzen, fordert die Unschuldsvermutung keinen Freispruch. Vielmehr stünde ein Freispruch trotz unzweifelhaft strafbaren Verhaltens aufgrund mehrfacher Anwendung des Zweifelssatzes seinerseits in Widerspruch zu dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, das als eine der Leitideen des Grundgesetzes auch die Forderung nach materieller Gerechtigkeit und den Grundsatz der Rechtsgleichheit einschließt. Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen, und der Anspruch aller in Strafverfahren Beschuldigter auf Gleichbehandlung rechtfertigen es, den staatlichen Strafanspruch auch dann durchzusetzen, wenn Zweifel hinsichtlich des Tatgeschehens verbleiben, gleichzeitig aber ein strafloses Verhalten des Angeklagten sicher ausscheidet.
Mit der gesetzesalternativen Verurteilung geht kein unzulässiges Verdachtsurteil einher. Zwar sind die in der Urteilsformel aufgeführten Straftatbestände – für sich genommen – nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts nachgewiesen. Durch die alternative Fassung des Schuldspruchs und die Darlegung der Voraussetzungen der wahlweisen Verurteilung in den Urteilsgründen kommt jedoch hinreichend deutlich zum Ausdruck, dass die Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage beruht.
- Die angegriffenen Entscheidungen halten sich im Rahmen zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung und verletzen die Beschwerdeführer daher nicht in ihrem Recht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG. Die Rechtsprechung zur ungleichartigen Wahlfeststellung greift insbesondere nicht in die Kompetenzen des Gesetzgebers ein, sondern kann sich vielmehr auf seine Billigung stützen. Der Gesetzgeber hat sich im Rahmen der Beratungen zum Dritten Strafrechtsänderungsgesetz mit der Wahlfeststellung befasst. Ausweislich der Begründung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs sollte die Frage, wie die Grenzen für die Zulässigkeit von wahlweisen Schuldfeststellungen zu ziehen sind, weiterhin der Rechtsprechung überlassen werden.
- Eine Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage zur Vermeidung der Gerechtigkeit widersprechender Ergebnisse ist gleichwohl nur in Ausnahmefällen zulässig, wenn trotz Ausschöpfung aller verfügbaren Erkenntnisquellen eine eindeutige Tatfeststellung und ein eindeutiger Tatnachweis nicht möglich sind. Die Möglichkeit einer Wahlfeststellung darf nicht dazu führen, dass die weitere Aufklärung des Tatsachenstoffs unterbleibt. Den Tatgerichten obliegt es daher, bereits im Rahmen des Eröffnungsbeschlusses das Vorliegen der Voraussetzungen einer Wahlfeststellung zu überprüfen. Des Weiteren müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass trotz Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten und erschöpfender Würdigung der Tatsachen und Beweise keine eindeutigen Feststellungen getroffen werden konnten.