Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 49/2016
Wird eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung eingestuft, liegt darin eine Verkürzung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung, da die Vermutung zugunsten der freien Rede für Tatsachenbehauptungen nicht in gleicher Weise gilt wie für Meinungsäußerungen im engeren Sinne. Dies hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden. Sie hat damit einer Verfassungsbeschwerde gegen die strafgerichtliche Verurteilung des Beschwerdeführers wegen übler Nachrede stattgegeben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer wurde mehrfach vom selben Polizeibeamten kontrolliert. An einem Abend im November 2013 bemerkte er diesen Polizeibeamten in einem Polizeifahrzeug vor seinem Haus, als er in der Einfahrt gegenüber wendete und dabei das vom Beschwerdeführer bewohnte Gebäude anleuchtete. Nachdem er dasselbe Fahrzeug im späteren Verlauf des Abends nochmals gesehen hatte, veröffentlichte er hierzu einen Eintrag auf seiner Facebook-Seite. Er warf dem namentlich genannten Polizeibeamten vor, er habe nichts Besseres zu tun als in irgendwelchen Einfahrten mit Auf- und Abblendlicht zu stehen und in die gegenüberliegenden Häuser zu leuchten und bezeichnete ihn als „Spanner“. Das Amtsgericht verurteilte den Beschwerdeführer wegen übler Nachrede (§ 186 StGB) zu einer Geldstrafe. Die Sprungrevision zum Oberlandesgericht blieb erfolglos. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 GG).
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
- Die Gerichte verkürzen den Schutzgehalt des Grundrechts hinsichtlich der gegenständlichen Äußerungen insofern, als sie in verfassungsrechtlich nicht mehr tragbarer Art und Weise annehmen, dass es sich um eine nicht erweislich wahre, ehrverletzende Tatsachenbehauptung im Sinne von § 186 StGB handelt.
Bei der Frage, ob eine Äußerung ihrem Schwerpunkt nach als Meinungsäußerung oder als Tatsachenbehauptung anzusehen ist, kommt es entscheidend auf den Gesamtzusammenhang dieser Äußerung an. Die isolierte Betrachtung eines umstrittenen Äußerungsteils wird den Anforderungen an eine zuverlässige Sinnermittlung regelmäßig nicht gerecht. Anders als bei Meinungen im engeren Sinne, bei denen insbesondere im öffentlichen Meinungskampf im Rahmen der regelmäßig vorzunehmenden Abwägung eine Vermutung zugunsten der freien Rede gilt, gilt dies für Tatsachenbehauptungen nicht in gleicher Weise. Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit sind deshalb auch dann verkannt, wenn eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung oder Schmähkritik eingestuft wird mit der Folge, dass sie dann nicht im selben Maß am Schutz des Grundrechts teilnimmt wie Äußerungen, die als Werturteil ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter anzusehen sind.
- Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Die Gerichte gehen zu Unrecht vom Vorliegen einer Tatsachenbehauptung aus und verkürzen damit den grundrechtlichen Schutz der Meinungsfreiheit. Der Beschwerdeführer schildert zwar ein tatsächliches Geschehen, nämlich den Wendevorgang des Polizeibeamten. Die Äußerung „Spanner“ war in vorliegendem Zusammenhang keine Tatsachenbehauptung, sondern eine Bewertung des Beobachteten, die dem Beweis nicht zugänglich ist. Bereits die falsche Einordnung der Äußerung als Tatsache führt zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidungen.
- Damit ist nicht entschieden, dass die Bezeichnung des Polizeibeamten als „Spanner“ im Ergebnis von der Meinungsfreiheit gedeckt war, und schon gar nicht, dass der Beschwerdeführer den Polizeibeamten künftig beliebig als „Spanner“ bezeichnen könnte. Soweit es sich bei der Äußerung nicht um eine Tatsachenbehauptung, sondern naheliegender Weise um ein Werturteil handeln sollte, läge hierin eine Herabsetzung des Polizeibeamten und damit eine Beeinträchtigung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts, die nicht ohne weiteres zulässig ist. Wieweit diese Äußerung durch die Meinungsfreiheit gerechtfertigt sein kann, entscheidet sich grundsätzlich nach Maßgabe einer Abwägung, die freilich nicht Gegenstand vorliegenden Verfahrens ist, das sich mit der Verbreitung von Tatsachenbehauptungen (Üble Nachrede nach § 186 StGB), nicht aber mit dem Tatbestand der Beleidigung nach § 185 StGB befasst.