Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 9/2019
Die polizeirechtlichen Vorschriften zur Kraftfahrzeugkennzeichenkontrolle in Baden-Württemberg und Hessen sind teilweise verfassungswidrig. Dies hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss unter Zugrundelegung der Maßstäbe aus dem Beschluss vom selben Tag (vgl. dazu Pressemitteilung Nr. 8/2019) entschieden.
Beide Länder können ihre Regelungen der Kennzeichenkontrollen im Wesentlichen auf ihre Gesetzgebungszuständigkeit für die Gefahrenabwehr stützen. Soweit Baden-Württemberg jedoch automatisierte Kennzeichenkontrollen zur Unterstützung von polizeilichen Kontrollstellen und Kontrollbereichen erlaubt, die zur Fahndung nach Straftätern und damit zur Strafverfolgung eingerichtet werden, fehlt es dem Land für die Regelungen schon zur Einrichtung dieser Kontrollstellen und Kontrollbereiche selbst an der Gesetzgebungskompetenz. Dementsprechend ist auch die hieran anknüpfende Kennzeichenkontrolle formell verfassungswidrig. Aus formellen Gründen sind auch die hessischen Regelungen zur automatisierten Kennzeichenkontrolle an polizeilichen Kontrollstellen, die zur Verhütung versammlungsrechtlicher Straftaten eingerichtet sind, sowie wiederum auch die Regelung zur Einrichtung dieser Kontrollstellen selbst verfassungswidrig. Als Eingriffe in Art. 8 GG genügen sie nicht dem Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG.
Die Regelungen genügen auch nicht in jeder Hinsicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. In beiden Ländern werden Kennzeichenkontrollen nicht umfassend auf den Schutz von Rechtsgütern von erheblichem Gewicht begrenzt und werden Kennzeichenkontrollen als Mittel der Schleierfahndung ohne eine ausreichend klare grenzbezogene Beschränkung erlaubt. Nicht zu beanstanden sind die Regelungen zum Umfang des Datenabgleichs. Entgegen der Praxis beider Länder sind sie jedoch verfassungskonform einschränkend dahingehend auszulegen, dass der Abgleich jeweils auf die Datensätze zu beschränken ist, die für die Erreichung des konkreten Zwecks der Kennzeichenkontrolle geeignet sind.
Der Senat hat die verfassungswidrigen Vorschriften größtenteils übergangsweise für weiter anwendbar erklärt, längstens jedoch bis zum 31. Dezember 2019.
Sachverhalt:
Die Polizei in Baden-Württemberg und Hessen wird mit den angegriffenen Vorschriften dazu ermächtigt, durch den Einsatz von Kennzeichenlesesystemen verdeckt die Kennzeichen von Kraftfahrzeugen zu erfassen und diese mit zur Fahndung ausgeschriebenen Kennzeichen abzugleichen (vgl. näher Pressemitteilung Nr. 8/2019 vom selben Tag zur entsprechenden Regelung in Bayern). Anders als nach der Verwaltungspraxis in Bayern wird bei Erstellung der Abgleichdatei in Baden-Württemberg und Hessen nicht nach dem Zweck der Kennzeichenkontrolle unterschieden, so dass der zum Abgleich herangezogene Datenbestand, der seine Grundlage insbesondere in den Sachfahndungsdaten des Schengener Informationssystems hat, nicht je nach Zweck der Aufstellung des Kennzeichenlesesystems variiert.
Die Beschwerdeführer wenden sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen die Regelungen der Kennzeichenkontrolle in den jeweiligen Landespolizeigesetzen selbst (Rechtssatzverfassungsbeschwerde). Sie seien Halter von Personenkraftwagen, mit denen sie regelmäßig auf den Straßen von Baden-Württemberg und Hessen unterwegs sind, und würden deshalb mit erheblicher Wahrscheinlichkeit unbemerkt in solche Kennzeichenkontrolle geraten. In diesen liege ein Eingriff in ihr Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Eine Rechtfertigung dieser Grundrechtseingriffe scheide aus, da die gesetzlichen Grundlagen der Kennzeichenkontrolle formell verfassungswidrig seien und gegen die verfassungsrechtlichen Grundsätze der Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit verstießen.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
- Die Rechtssatzverfassungsbeschwerden sind zulässig, auch wenn die Beschwerdeführer zuvor nicht den fachgerichtlichen Rechtsweg erschöpft haben.
Nach dem Subsidiaritätsgrundsatz sind Beschwerdeführer grundsätzlich dazu verpflichtet, alle Mittel zu ergreifen, die der geltend gemachten Grundrechtsverletzung abhelfen könnten. Dazu kann bei Verfassungsbeschwerden unmittelbar gegen ein Gesetz auch die Erhebung einer Feststellungs- oder Unterlassungsklage gehören. Das ist auch dann nicht ausgeschlossen, wenn die fachgerichtliche Prüfung für den Beschwerdeführer günstigstenfalls dazu führen kann, dass das angegriffene Gesetz gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt wird. Entscheidend ist, ob die fachgerichtliche Klärung erforderlich ist, um zu vermeiden, dass das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidungen auf ungesicherter Tatsachen- und Rechtsgrundlage trifft. Die Pflicht zur vorherigen Anrufung der Fachgerichte darf Beschwerdeführer dabei aber nicht vor unabsehbare Risiken hinsichtlich der ihnen zu Gebote stehenden Handlungsmöglichkeiten und der hierbei zu beachtenden Fristen stellen. Es bedarf insoweit einer rechtsschutzfreundlichen Auslegung.
Grundsätzlich waren die Beschwerdeführer danach verpflichtet, zunächst Unterlassungsklagen gegen die Kennzeichenkontrollen vor den Fachgerichten einzulegen. Dies war ihnen vorliegend jedoch nicht zumutbar, da in der letzten Entscheidung des Ersten Senats zu dem gleichen Thema bei gleicher prozessualer Ausgangslage die Möglichkeit einer Unterlassungsklage noch nicht einmal in Erwägung gezogen wurde. Hinzu kommt, dass inzwischen über den Kern des Beschwerdevorbringens von den Fachgerichten bis hin zum Bundesverwaltungsgericht entschieden wurde und eine Verweisung der Beschwerdeführer auf den Rechtsweg die Entscheidungsgrundlagen für die Beurteilung der Vorschriften heute daher nicht mehr verbreitern könnte.
- Die Verfassungsbeschwerden sind zudem teilweise begründet.
- Die Regelungen zur Kraftfahrzeugkennzeichenkontrolle greifen nach den Maßstäben, die der Senat in seinem ebenfalls heute veröffentlichten Beschluss zu entsprechenden Vorschriften des Freistaats Bayerns entwickelt hat, in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ein (vgl. dazu Pressemitteilung Nr. 8/2019).
- Hinsichtlich der Vereinbarkeit der angegriffenen Normen mit den formellen Anforderungen der Verfassung bestehen weithin keine Bedenken. Die Regelungen zur Kennzeichenkontrolle in beiden Ländern sind überwiegend der Gefahrenabwehr zuzuordnen, für welche die Länder die Gesetzgebungskompetenz innehaben.
Aus formellen Gründen nicht mit der Verfassung vereinbar ist jedoch, dass in Baden-Württemberg automatisierte Kennzeichenkontrollen zur Unterstützung von polizeilichen Kontrollstellen oder Kontrollbereichen zur Fahndung nach Straftätern vorgesehen sind. Hier fehlt dem Land schon für die Bestimmungen, die die Einrichtung solcher Kontrollstellen und -bereiche selbst regeln, die Gesetzgebungskompetenz. Es handelt sich um Regelungen zur Strafverfolgung, für die der Bund die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz hat und von der er auch abschließend Gebrauch gemacht hat. Entsprechend ist die Regelung der Kennzeichenkontrolle, die als tatbestandliche Voraussetzung auf diese Regelung verweist, verfassungswidrig. Es fehlt insoweit an einer hinreichend bestimmten und begrenzenden Anknüpfung für die Kennzeichenerfassung.
Formell nicht mit der Verfassung vereinbar sind auch die hessischen Regelungen zu automatisierten Kennzeichenkontrollen, soweit sie zur Unterstützung von polizeilichen Kontrollstellen zur Verhinderung von versammlungsrechtlichen Straftaten dienen, sowie wiederum auch die Regelung zur Einrichtung solcher Kontrollstellen selbst. Der Gesetzgeber darf solche Kontrollen zwar vorsehen. Weil in ihnen jedoch ein Eingriff in die Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG liegt, muss das Gesetz das Grundrecht unter Angabe dessen Artikels nennen (sogenanntes Zitiergebot, vgl. Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG). Dem genügen die angegriffenen Vorschriften nicht.
- In materieller Hinsicht sind die angegriffenen Vorschriften mit den aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgenden Anforderungen nicht in jeder Hinsicht vereinbar. Der Senat greift hierfür auf seine Maßstäbe für polizeiliche Kontrollen zurück, die er im ebenfalls heute veröffentlichten Beschluss zu entsprechenden Regelungen in Bayern ausgeführt hat (vgl. dazu Pressemitteilung Nr. 8/2019).
- a) Den Regelungen der Kennzeichenkontrolle in Baden-Württemberg und Hessen fehlt es hinsichtlich der tatbestandlichen Voraussetzung der allgemeinen Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung an einer Beschränkung auf den Schutz von Rechtsgütern von zumindest erheblichem Gewicht oder einem vergleichbar gewichtigen öffentlichen Interesse.
- b) Soweit die Kennzeichenkontrolle als Mittel der Schleierfahndung erlaubt wird, stellen die Regelungen beider Länder nicht sicher, dass derartige Kontrollen nur an Orten mit einem hinreichend klaren Grenzbezug erfolgen dürfen. Indem die Schleierfahndung in Baden-Württemberg allgemein auf Straßen von erheblicher Bedeutung für die grenzüberschreitende Kriminalität im ganzen Land eröffnet wird, ist der Grenzbezug für automatisierte Kennzeichenkontrollen nicht hinreichend bestimmt und begrenzt. Diesen Anforderungen werden auch die hessischen Regelungen nicht gerecht, soweit sie die Schleierfahndung auf allen Straßen im ganzen Land zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität eröffnen.
- c) Im Übrigen sind die gesetzlichen Voraussetzungen für die Durchführung der Kennzeichenkontrolle in beiden Ländern, die sich wesentlich aus einem Verweis auf die Regelungen zur Identitätsfeststellung ergeben, verfassungsrechtlich weder hinsichtlich der Anforderungen an einen hinreichend bestimmten konkreten Anlass noch hinsichtlich der Anforderungen an einen hinreichend gewichtigen Rechtsgüterschutz zu beanstanden. Dies gilt für die Ermächtigung zur Kontrolle an gefährlichen und gefährdeten Orten, zum Schutz besonders gefährdeter Personen sowie zur Unterstützung polizeilicher Kontrollstellen zur Verhütung besonders schwerer Straftaten, wenn bereits die Einrichtung derartiger Kontrollstellen eine konkrete Gefahr voraussetzt.
- d) Einer einschränkenden verfassungskonformen Auslegung bedürfen allerdings die Regelungen zum Datenabgleich. Sie müssen so verstanden werden, dass sich der Umfang des erlaubten Datenabgleichs jeweils auf diejenigen Fahndungsbestände beschränkt, die für den konkreten Zweck der Kennzeichenkontrolle von Bedeutung sind. Das in den Verfahren zum Ausdruck gekommene gegenläufige Verständnis in der Praxis genügt diesen Anforderungen nicht.
- e) Die Vorschriften zur Verwendung der Daten für weitere Zwecke entsprechen den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Zweckänderung nicht. Nach dem Kriterium der Datenneuerhebung ist die Verwendung der Informationen nur zulässig, wenn diese auch für den geänderten Zweck mit vergleichbar schwerwiegenden Mitteln neu erhoben werden dürften. Dies stellen weder die baden-württembergischen noch die hessischen Regelungen ausreichend sicher.