Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 24/2020
Gottesdienstverbot bedarf als überaus schwerwiegender Eingriff in die Glaubensfreiheit einer fortlaufenden strengen Prüfung seiner Verhältnismäßigkeit anhand der jeweils aktuellen Erkenntnisse
Beschluss vom 10. April 2020
1 BvQ 28/20
Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit heutigem Beschluss einen Antrag auf vorläufige Außervollzugsetzung einer Regelung der Verordnung zur Bekämpfung des Corona-Virus der hessischen Landesregierung (im Folgenden: Corona-Verordnung), die unter anderem ein Verbot von Zusammenkünften in Kirchen enthält, auf der Grundlage einer Folgenabwägung abgelehnt.
Der Antragsteller ist katholischen Glaubens und besucht regelmäßig die Heilige Messe. Er hat unter Bezugnahme auf Aussagen des II. Vatikanischen Konzils (Dogmatische Konstitution über die Kirche, Nr. 11) und des Katechismus der Katholischen Kirche (Nr. 1324 bis 1327) nachvollziehbar dargelegt, dass die gemeinsame Feier der Eucharistie nach katholischer Überzeugung ein zentraler Bestandteil des Glaubens ist, deren Fehlen nicht durch – nach wie vor zulässige – alternative Formen der Glaubensbetätigung wie die Übertragung von Gottesdiensten im Internet oder das individuelle Gebet kompensiert werden kann. Vor diesem Hintergrund hat die Kammer das Verbot von Zusammenkünften in Kirchen nach der Corona-Verordnung des Landes Hessen als überaus schwerwiegenden Eingriff in die Glaubensfreiheit gewertet. Das gilt nach den plausiblen Angaben des Antragstellers verstärkt, soweit sich das Verbot auch auf Eucharistiefeiern während der Osterfeiertage als dem Höhepunkt des religiösen Lebens der Christen erstreckt. Damit sind die Nachteile für den Fall, dass die begehrte einstweilige Anordnung nicht ergeht, eine Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, überaus schwerwiegend und nach dem Glaubensverständnis des Antragstellers auch irreversibel.
Bei einer antragsgemäßen vorläufigen Außervollzugsetzung des Verbots von Zusammenkünften in Kirchen versammelten sich demgegenüber voraussichtlich sehr viele Menschen in Kirchen, gerade auch über die Osterfeiertage. Damit würde sich die Gefahr der Ansteckung mit dem Virus, der Erkrankung vieler Personen, der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtung bei der Behandlung schwerwiegender Fälle und schlimmstenfalls des Todes von Menschen nach der maßgeblichen Risikoeinschätzung des Robert-Koch-Instituts vom 26. März 2020 erheblich erhöhen, obwohl dies im Falle der Erfolglosigkeit einer Verfassungsbeschwerde durch ein Gottesdienstverbot in verfasssungsrechtlich zulässiger Weise hätte vermieden werden können. Diese Gefahren blieben dann auch nicht auf jene Personen beschränkt, die freiwillig an den Gottesdiensten teilgenommen haben, sondern erstreckten sich auf einen erheblich größeren Personenkreis.
Nach Auffassung der Kammer hat der Schutz vor diesen Gefahren für Leib und Leben derzeit trotz des damit verbundenen überaus schwerwiegenden Eingriffs in die Glaubensfreiheit Vorrang vor dem Schutz dieses Grundrechts. Nach der Bewertung des Robert-Koch-Instituts kommt es in dieser frühen Phase der Corona-Pandemie darauf an, die Ausbreitung der hoch infektiösen Viruserkrankung durch eine möglichst weitgehende Verhinderung von Kontakten zu verlangsamen, um ein Kollabieren des staatlichen Gesundheitssystems mit zahlreichen Todesfällen zu vermeiden. Die Kammer stellt klar, dass für die Folgenabwägung auch die Befristung der Corona-Verordnung bis zum 19. April 2020 von Bedeutung ist. Damit ist sichergestellt, dass die Verordnung unter Berücksichtigung neuer Entwicklungen der Corona-Pandemie fortgeschrieben werden muss. Bei jeder Fortschreibung der Verordnung muss mit Blick auf den mit einem Gottesdienstverbot verbundenen überaus schwerwiegenden Eingriff in die Glaubensfreiheit eine strenge Prüfung der Verhältnismäßigkeit erfolgen und untersucht werden, ob es angesichts neuer Erkenntnisse etwa zu den Verbreitungswegen des Corona-Virus oder zur Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems verantwortet werden kann, das Verbot von Gottesdiensten unter – gegebenenfalls strengen – Auflagen und möglicherweise auch regional begrenzt zu lockern.
Die Kammer weist abschließend darauf hin, dass Gleiches auch für andere Religionsgemeinschaften gilt, die durch das Verbot von Zusammenkünften vergleichbar schwerwiegend betroffen sind, weil für sie die gemeinsame Zusammenkunft ihrer Gläubigen ebenfalls zentraler Bestandteil ihres Glaubens ist.